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Christen heute, Januar 2017

Das Alte Testament: Wie gehen wir um mit dem, was uns fremd ist?

Ist sie uns noch heilig, die Heilige Schrift des – pardon – Alten Testaments?

Unantastbar ist sie uns jedenfalls nicht: Wir scheuen uns nicht, mit den Wissenschaftlern zu fragen, was an den Geschichten über Abraham, Isaak und Jakob historisch ist. Ob die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen ihnen nicht erst nachträglich konstruiert wurden. Wie das mosaische Gesetz entstanden ist: als Offenbarung nach dem Auszug aus Ägypten auf dem Sinai, wie die Bibel lehrt – oder erst viele Jahrhunderte später, wie die Historiker sagen. Die Historiker, nicht die Bibel, fragen wir auch, wenn wir wissen wollen, ob der Auszug aus Ägypten überhaupt stattgefunden hat.

Und wie steht es um die moralische Autorität des Alten Testaments? Die Zehn Gebote lassen wir im Großen und Ganzen gelten. Aber an vielen anderen Stellen unterwerfen wir die Bibel unseren Wertmaßstäben, nicht umgekehrt: Wir verabscheuen die – unhistorischen – Gräueltaten, auf die Gott seine Krieger bei der Landnahme verpflichtet haben soll. Wir können der Opferung Isaaks durch Abraham nichts Positives abgewinnen, außer dass sie in letzter Sekunde verhindert wurde. Wir lehnen die Todesstrafe ab, die das mosaische Gesetz geradezu inflationär vorsieht. Und uns befremdet die Feindseligkeit gegen andere Religionen, die das Alte Testament durchzieht.

 

Lesen und nein sagen

Was tun mit Bibelstellen, die historisch falsch sind, Unmenschlichkeit verherrlichen oder gesellschaftliche Verhältnisse zementieren, die wir nicht wollen? Sollen wir sie geschmeidig nach unserem Geschmack uminterpretieren, sollen wir sie übersetzen widde widde wie es uns gefällt, oder sollen wir sie nicht mehr lesen?

Ich halte es so: Ich lese das Alte Testament, bevorzugt in einer möglichst wortgetreuen Übersetzung wie der „Elberfelder“, mal mit, mal ohne den exegetischen Kommentar der „Stuttgarter Erklärungsbibel“. Und wenn ich auf Stellen stoße, zu denen ich nicht ja sagen kann, dann sage ich dazu eben nein.

Lesen und nein sagen: das scheint mir allemal aufschlussreicher, als nicht zu lesen. Und wenn ich mein Nein klargemacht habe, kann ich einen Schritt weitergehen und fragen: Lässt sich dieser Text auch anders verstehen?

Wenn wir denselben Text unter unterschiedlichen Gesichtspunkten immer wieder lesen und hören: Dann geht uns langsam auf, wie unermesslich viel wir verlieren würden, wenn wir das Alte Testament nicht mehr lesen würden. Seinen Scheußlichkeiten zum Trotz, birgt es einen unerschöpflichen Reichtum an seelischen Schätzen, an befreienden, heilsamen und tröstenden Kräften. Mit meinen 55 Jahren habe ich kaum erst begonnen, diese Schätze auch nur zu erahnen. Über dieses in mehr als tausend Jahren gewachsene Menschheitsbuch ein abschließendes Urteil zu fällen: Was für eine groteske Selbstüberschätzung wäre das.

Wo die Kritik nicht zum abschließenden Urteil gefriert, da kann sie den Blick freilegen auf das Kostbare. Viele Christen und Juden sind heute überzeugt, dass sie ihre Heilige Schrift so kritisch und offen lesen dürfen.

 

Unterschiedliche Lesarten Heiliger Schriften

Noch nicht lange stelle ich mir in diesem Zusammenhang die Frage: Dürfen auch Muslime ihre Heilige Schrift, den Koran, so lesen? Eigentlich sollte ich diese Frage hier nicht aufwerfen. Dafür habe ich mich bisher viel zu wenig mit dem Islam beschäftigt. Einen Eindruck möchte ich dennoch ansprechen: Offenbar lesen sehr viele Muslime ihren Koran sehr anders als jedenfalls wir Altkatholiken unsere Bibel. Das wurde mir im letzten Ramadan deutlich. 2016 fiel der Fastenmonat in die Wochen um den längsten Tag des Jahres, in die Zeit also, in der er am schwersten einzuhalten ist. Dennoch aßen auch hierzulande viele Muslime von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang keinen Bissen und tranken keinen Tropfen, weil ihr Heiliges Buch es so verlangt.

Eine solche Autorität hat unsere Heilige Schrift jedenfalls für uns Altkatholiken nicht. Wenn wir uns von ihr etwas auferlegen lassen, dann allenfalls allgemeinmenschliche ethische Maximen, für die wir die Bibel im Grunde nicht brauchen.

Für diese Freiheit haben wir durchaus unsere Gründe, zumal beim Alten Testament. Über dessen Speisegebote hat sich schließlich bereits Jesus hinweggesetzt. Spätestens seit Paulus sind wir Christen an das mosaische Gesetz ohnehin nicht mehr gebunden. Vergleichbar konkrete und schwere Auflagen kennt zwar auch das Neue Testament, etwa im Verbot der Wiederverheiratung oder in der Ehelosigkeit für die besonders Ehrgeizigen. Aber wenn wir Altkatholiken uns auch daran nicht mehr halten, dann finden wir unsere Gründe sehr wohl auch im Neuen Testament selbst.

Vertreten wir also unsere kritische Freiheit. Aber was wäre an dieser Haltung kritisch und frei, wenn wir nicht gelegentlich auch sie in Frage stellen dürften? Wenn wir nicht auch einmal zu unserer eigenen Haltung Abstand gewinnen könnten, um uns zu fragen: Bei allem, was wir durch die Freiheit zur Kritik gewonnen haben – haben wir dadurch vielleicht auch etwas verloren? Die biblischen Autoren und Redaktoren jedenfalls wollten nicht, dass ihre Texte kritisch hinterfragt, sondern dass sie gläubig angenommen werden. Kritik mag den Sinn heiliger Texte oft überhaupt erst erschließen. Aber sie entfernt uns auch von ihnen.

Das einzugestehen, könnte auch hilfreich sein im Dialog mit den Flüchtlingen, Muslimen wie Christen. Denn unter ihnen ist der Anteil derer hoch, die zu ihrer Heiligen Schrift ein Verhältnis gläubiger Verehrung pflegen, das wir unkritisch nennen würden. Im Dialog mit ihnen könnten wir nicht zuletzt erfahren, wie entschieden auch diese Gläubigen Gewalt ablehnen: Alle Flüchtlinge, mit denen ich darüber gesprochen habe, verabscheuen Krieg und Terror – was auch immer wir dazu in Koran und Altem Testament lesen oder zu lesen meinen.

Religiöser Dialog erfordert viel Einfühlung und Fingerspitzengefühl. Nicht umsonst gilt Religion als ein Thema, um das man im Small Talk einen großen Bogen machen sollte. Gelingen kann dieser Dialog jedenfalls nur, wenn er frei ist von Herablassung gegenüber dem – vermeintlich oder tatsächlich – „Rückständigen“. Denn es geht nicht nur um Dialog mit anderen Konfessionen und Religionen. Natürlich, da sind wir dafür. Aber wie steht es um unsere Dialogfähigkeit mit anderen, konservativeren Glaubensweisen? Sie besser zu verstehen: Auch dabei hilft uns die Lektüre unserer eigenen Heiligen Schrift, zumal des Alten Testaments.

 

Gregor Bauer