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Christen heute, Juli 2016

Cicero: „Ist das echt passiert?“

Sind die biblischen Wunder wirklich passiert? „Nein! Wunder sind naturwissenschaftlich nicht möglich. Also sind sie auch nicht passiert.“ So kann man argumentieren. – „Nein! Denn die biblischen Autoren wollten gar keine Fakten vermitteln. Unsere heutige Unterscheidung zwischen Fakt und Phantasie war den Menschen damals fremd.“ Da werde ich stutzig: Wieso berichtet dann beispielsweise Matthäus, dass die Pharisäer die Vortäuschung eines Wunders verhindern wollten, indem sie Wachen für das Grab Jesu bestellten?

„Ist das echt passiert?“ Natürlich haben auch die Menschen der Antike diese einfache Kinderfrage gestellt. Einer, der das besonders eindringlich getan hat, und zwar lange vor den Evangelisten, war der Politiker, Anwalt, Redner, Philosoph und Theologe Cicero (106 – 43 v. Chr.).

 

Skeptisch fromm

Cicero, die Stil-Ikone der Latinisten, gilt vielen Philosophen als oberflächlich. Ob das auch daran liegt, dass er sich nicht unverständlich genug ausgedrückt hat? Historiker des 19. Jahrhunderts warfen ihm einen opportunistischen Charakter vor. Und in der Tat war sein vielfältiges Leben voller Widersprüche. Aber macht ihn das nicht nur umso interessanter?

Voller Widersprüche steckt auch Ciceros Theologie: Obwohl Skeptiker, hatte er einen ausgeprägten Sinn für die Sphäre des Religiösen. In einem seiner theologischen Werke („Über die Wahrsagung“) führt er ein Streitgespräch über den Realitätsgehalt von Wundergeschichten, wie sie damals kursierten. Sein Bruder Quintus hält diese Geschichten für wahr – zumindest einige davon. Cicero nicht: Wunder seien entweder physikalisch möglich, also keine Wunder. Oder sie seien physikalisch unmöglich. Dann seien sie auch nicht passiert. Quintus widerspricht: Dass Wunder physikalisch nicht möglich sind – das ist es ja gerade, was sie so wertvoll macht, als Beweise für das Wirken göttlicher Mächte.

Im Gegensatz zu seinem Bruder Quintus hält also Cicero die Physik für die letzte Realität. Was ihn freilich nicht davon abhält, den traditionellen Götterkult zu pflegen. Aber nur, weil dieser Kult für Volk und Staat nützlich ist. Im Ernst an die Wirksamkeit von Opfern und Eingeweidebeschau zu glauben – das könne man von einem vernünftigen Mensch nicht fordern. Ist Cicero uns hier nicht verblüffend ähnlich? Was glauben wir eigentlich noch, wenn wir unsere Liturgie feiern?

 

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

Im Streitgespräch mit Quintus wären die meisten unserer Theologen wohl auf der Seite Ciceros. Etwas zu glauben, was die Naturwissenschaften ausschließen – das wollen sie sich nicht nachsagen lassen. Wunder gibt es nicht. Wenn der Begriff „Wunder“ noch verwendet wird, dann in einem weiten Sinn, etwa so: „Das ganze Leben ist ein Wunder.“ Stimmt – einerseits. Andererseits: Man kann den Wunderbegriff auch so weit dehnen, um die Frage nach dem physikalisch Unerklärlichen zu unterdrücken.

Es gibt viele Menschen, die bekennen, dass sie physikalisch Unerklärliches erlebt haben: Da ist die Mutter, die den Moment spürte, in dem ihr tausende Kilometer entfernter Sohn starb. Oder die Enkelin, deren verstorbener Großvater sie im Traum vor einem Einbrecher warnte, der kurze Zeit später tatsächlich durch ihr Fenster eindringen wollte. Oder der Patient, der im Koma reale Ereignisse wahrnahm, die er in seinem Zustand und von seinem Standort aus, zumal bei verschlossenen Augen, unmöglich wahrnehmen konnte.

Dass Naturwissenschaftler sich durch die Beschäftigung mit solchen Berichten nicht ihre Karriere verderben wollen, ist verständlich. Aber was ist davon zu halten, wenn auch Theologen kneifen?

 

Haben Wunder ausgedient?

Wunder, so hört man gelegentlich, taugen heute zur Stärkung des Glaubens nicht mehr. Das stimmt nicht, nicht für mich. Es gibt Wunderberichte, die ich für glaubwürdig halte, und diese Berichte bestärken mich sehr wohl in meinem Glauben. Für eines taugen solche Berichte allerdings in der Tat nicht mehr: Als Belege für die Richtigkeit einer bestimmten Religion in Abgrenzung zu allen anderen. Denn heute lässt sich nicht mehr verbergen, dass Wunder auch aus anderen Religionen berichtet werden, und von jenseits der Religionen.

Doch der springende Punkt ist für mich ein anderer: Wer ein Wunder erlebt hat, der – oder die – kann mit der Feststellung nichts anfangen, dass sein Erlebnis wissenschaftlich nicht verifizierbar und daher irrelevant sei. Er hat eine persönliche Botschaft erhalten, für die er danken und auf die er mit seinem Leben antworten will. Ich meine: Das ist der Punkt, an dem nicht nur die Theologen, sondern wir alle als Mitmenschen in der Verantwortung sind. Wenn wir uns hinter dem naturwissenschaftlich Möglichen verstecken, lassen wir die Menschen im Stich, denen naturwissenschaftlich Unmögliches widerfahren ist. Genauer: Denen etwas widerfahren ist, das heute als naturwissenschaftlich unmöglich gilt. Denn wer weiß: Vielleicht werden uns eines Tages die Naturwissenschaftler belehren, dass das, was wir für moderne Wissenschaft halten, längst schon wieder historisch ist.

 

Gregor Bauer