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Christen heute, April 2017  

Jesus: Warum laufen ihm heute die Jünger davon?

Was ist geblieben von der Anziehungskraft Jesu? Im Römischen Reich hat sich seine Botschaft gegen alle Widerstände rasend schnell ausgebreitet. Heute leeren sich die Kirchen. Woran mag das liegen?

 

Damals und heute

Jesu Botschaft zündete zuerst unter armen, ungebildeten Menschen, die überlegenen Mächten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Ihr Gottesbild entsprach diesen Verhältnissen: Sie sahen in Gott die Macht hinter allen Mächten, eine Macht, die nach Gutdünken befehlen und bestrafen durfte. In ihrer Ohnmacht half ihnen kein Protest, sondern nur Flehen um Gnade: Jesu Zeitgenossen verstanden sich als zutiefst abhängig und erlösungsbedürftig.

Heute richtet sich dieselbe Botschaft an Bürgerinnen und Bürger eines Wohlfahrtsstaats, die vieles selbstverständlich nehmen, was einmal alles andere als selbstverständlich war: Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf, körperliche Unversehrtheit. Die politische Macht unterliegt Kontrollinstanzen, darf kritisiert und abgewählt werden. Der Chef muss als Sozialpartner seinen Teil des Vertrags einhalten und respektvoll mit den Beschäftigten umgehen. Von Gott – sofern wir noch an ihn glauben – erwarten wir dieselben Standards. Läuft etwas schief, flehen wir nicht um Gnade, sondern fordern unser Recht ein. Wir sind mündig, gut informiert und digital rundum bespaßt: Wozu brauchen wir einen Erlöser?

Aufklärung und Naturwissenschaft haben weitere Gräben zwischen damals und heute aufgerissen. Dem Publikum Jesu galten Wunder als Realität. Heute halten wir das Gewebe von Ursache und Wirkung für lückenlos. Damals lauerte das Böse überall in Gestalt schrecklicher Dämonen. Heute glauben wir angesichts der Fortschritte in der Hirnforschung kaum noch, dass der Mensch überhaupt schuldig werden kann. Damals war Gott eine Macht, die jederzeit in die Geschichte eingreifen konnte, zum Schrecken der Ungläubigen und zum Jubel der Frommen. Heute suchen wir unser Heil in politischer Vernunft, die sich allen Menschen verpflichtet fühlt.

Wo steht in diesem Zwiespalt Jesus? Nun, er teilte die Vorstellungen seiner Zeit. Unsere kannte er noch nicht. Allerdings wollte er die Menschen nicht mit einem strafenden Gott ängstigen: Verängstigt waren sie bereits. Er wollte sie im Gegenteil aus ihrer Angst befreien. Sein Problem heute ist: Wir sind bereits befreit. Der Frohbotschaft ist ihr finsterer Hintergrund abhanden gekommen; kein Wunder, dass ihre Strahlkraft verblasst. 

 

Vergebung

„Wir sind bereits befreit“: Im Grunde sagt das Jesus ja auch. Nur sagt er es zu Menschen, denen diese Botschaft neu und alles andere als selbstverständlich ist. Wie stark muss damals Jesu Zusage gewirkt haben: Ihr seid bereits erlöst. Ganz gleich, was ihr angestellt habt: Euch ist vergeben. Gott ist euch ein liebender Vater. Er will keine Vorleistung von euch. Er hat alles vom Tisch gewischt, was euch von ihm trennen könnte.

 

Abgründe

Je mehr die Menschen sich damals als schuldbelastet erlebt haben, desto freudiger und dankbarer werden sie auf diese Großzügigkeit Gottes reagiert haben. Jesus verlangte von ihnen nur eines: dass sie nun auch ihrerseits gegenüber ihren Schuldnern so großzügig seien, wie sie es von Gott erfahren hatten.

Paradoxerweise fiel den Anständigsten diese Großzügigkeit am schwersten. Denn sie waren es gewohnt, sich durch ihre eigene Anständigkeit von den anderen, den Unanständigen, abzugrenzen. Für sie hatte Jesus eine bittere Lektion: Ihr Anständigen habt vor den Sündern nichts voraus. Denn das Guthabenkonto, das ihr euch bienenfleißig erarbeitet habt, ist unbedeutend, verglichen mit der Güte und Vergebung Gottes, die auch euch unverdient geschenkt wurde. 

Das war ein harter Brocken. Doch an diesem Punkt ließ Jesus nicht mit sich spaßen: Wer die Großzügigkeit Gottes nicht weitergibt, verliert sie wieder. Er sagt „Nein!“ zu Gottes Güte. Und wenn er in diesem „Nein!“ verharrt, droht ihm Unheil, bis hin zur ewigen Verdammnis.

Ewige Verdammnis? Die Pharisäer haben an sie geglaubt (Josephus, Jüd. Krieg 2.8.14, Altertümer 8.14–15). Wenn Jesus ihr Weltbild geteilt hat – und viele Forscher meinen, dass er ihnen sehr nahe stand: Dann hat wohl tatsächlich Jesus selbst vor der Hölle gewarnt, um Menschen zu retten. Für uns Heutige ist diese Warnung nur noch blinder Alarm.

 

Der Kreuzestod: ein Opfer?

Hat Jesus – wie schon die frühe Kirche – geglaubt, dass sein himmlischer Vater seinen Opfertod am Kreuz verlange, um sich mit der Menschheit zu versöhnen? Das ist unter Exegeten umstritten. Dafür spricht, dass Jesus das alttestamentarische Lied vom Gottesknecht auf sich bezogen haben könnte (Jesaja 52): „Wegen unserer Verbrechen wurde er durchbohrt, wegen unserer Sünden zermalmt“. Dagegen spricht, dass Gott – so Jesus – den Menschen ohne Vorleistung bereits vergeben hat. Wozu da noch ein Kreuzesopfer?

Die frühen Christen freilich deuteten diesen schrecklichen Tod als Opfer. Und schöpften daraus im Licht der Auferstehung eine ungeheure Hoffnung: Die Liebe Gottes ist stärker als alles, was mir je passieren kann, stärker als Schuld, Scheitern, Leid und Tod. Nur so konnte Jesu Botschaft zum radikalen Gegenentwurf werden gegen alle Wertsetzungen, die am Kern des Menschseins vorbeigehen.

Wenn wir heute die Sinndeutung von Jesu Tod als Opfer aufgeben, haben wir historisch möglicherweise sogar recht. Dennoch geben wir damit preis, was einmal der Kern des Christentums war. Der Opfergedanke hatte eine ungeheure Wirkung auf die Leidenden und Geknechteten, zumal auf die vielen Sklaven, die ständig selbst vom Kreuzestod bedroht waren.

Uns passt der Gedanke nicht mehr ins Konzept, wie so vieles im Neuen Testament. Und so zimmern wir uns ein Testament nach unserem Bild: Auf der einen Seite überlesen wir Schuld, Opfer und Hölle; auf der anderen Seite schreiben wir beispielsweise Jüngerinnen ins Abendmahl hinein, obwohl sich die historische Forschung keineswegs einig ist, ob bei diesem Mahl tatsächlich Frauen anwesend waren.

 

Umgetopft

So steht sie eben doch etwas deplatziert in unserer Zeit, die umgetopfte Lehre Jesu. Ihre Verkünder glauben selbst nicht mehr so recht daran. Bereitwillig geben sie zu, dass sie in einer Tradition stehen, die ihnen einen Bären nach dem anderen aufgebunden hat: Dass Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen habe, dass Jesus in Bethlehem geboren sei, dass er Wasser in Wein verwandelt habe, dass er über das Wasser spaziert sei und Dämonen ausgetrieben habe: All das und viel mehr halten auch sie nur noch für Legende. Aber dass Jesus auferstanden sei und dass man mit ihm heute noch sprechen kann: Diese Botschaft soll dann plötzlich wahr sein, obwohl sie aus denselben legendenhaften Quellen stammt. Warum?

 

Wo Jesus weiterlebt

Wo die Dinge so stehen, da ist das Christentum rückläufig. Aber: Die Dinge stehen nicht überall so. Deutschland ist nicht die Welt. Wo die Menschen noch Not leiden; wo sie Despoten und Naturgewalten ausgeliefert sind; wo sie Gott nicht nur lieben, sondern auch fürchten und ernsthaft mit seinem Eingreifen rechnen; wo sie Hände auflegen und Erfahrungen machen, die sie nicht anders denn als Wunder deuten können: Dort nimmt das Christentum weiter rasant zu – sofern es nicht durch brutale Verfolgung daran gehindert wird.

Dieses vitale Christentum kann auch gefährliche Formen annehmen. Beispielsweise dort, wo es Homosexuelle auf übelste Weise verfolgt. Dennoch – und deshalb – muss uns zu denken geben: Wo das Christentum weltweit wächst, da ist es nicht das Christentum der westlich-aufgeklärten Theologie.

Doch wer weiß: Vielleicht ist uns die Erfahrungswelt der Armen und Rechtlosen, in der die Frohbotschaft so vital ist wie eh und je, näher, als es auf den ersten Blick scheint. Vielleicht müssten wir nur ein wenig Firnis abkratzen. Denn die Rechte, auf die wir so selbstbewusst pochen, sind nur ein kulturell vermittelter Zustand, der jederzeit zusammenbrechen kann. Dahinter lauert dieselbe existenzielle Bedürftigkeit, die den Armen aller Zeiten täglich vor Augen ist.

Wenn uns im Gebirge ein Unwetter überrascht; wenn ein geliebter Mensch stirbt oder uns verlässt; wenn wir eine tödliche Diagnose erhalten, der auch die moderne Medizin machtlos gegenübersteht; wenn wir uns, Hirnforschung hin oder her, eben doch als schuldig wahrnehmen: Dann machen auch wir die Erfahrung, von der Jesus ausging. Wenn wir uns in dieser dramatischen Lage von Gott retten lassen, die erfahrene Großzügigkeit weitergeben und in allem die Liebe an die erste Stelle setzen: Dann folgen wir den Spuren Jesu.

 

Gregor Bauer