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Christen heute, Januar 2015 

Hallo Metzinger, hier spricht Gregor

Wir Gläubigen werden in dieser Gesellschaft nur noch selten hart angegangen. Viele halten uns für Spinner, aber kaum jemand sagt uns das offen ins Gesicht. So bleiben unserem Glauben die Prüfungen erspart; er darf vor sich hindämmern. Würde er eines Tages doch ernsthaft in die Mangel genommen, wer weiß, vielleicht würde sich herausstellen: Da ist nichts mehr.

Ein paar Denker gibt es aber doch, die uns ungeschminkt sagen, was sie von uns halten. Einer von ihnen ist der Philosoph und Neurowissenschaftler Thomas Metzinger. In seinem Essay „Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit“, das unter anderem im Internet kursiert, spricht er Tacheles. Ich fasse es so zusammen:

Religionen, so Metzinger, sind Wahnsysteme, historisch entstanden aus dem Erschrecken des Menschen über seine eigene Sterblichkeit. Sie sind ein Versuch, dieser harten Realität auszuweichen. Heute wissen wir, dass dieser Versuch untauglich ist. Denn vier Jahrtausende Philosophiegeschichte haben für die Existenz Gottes kein einziges überzeugendes Argument erbracht. Auch empirisch gibt es keine Belege für seine Existenz. Zugunsten Gottes auf die eigene Intuition zu verweisen, wäre naiv: Wir wissen heute, dass uns intuitive Gewissheiten systematisch in die Irre führen können (Beispiel: Die intuitive Gewissheit, dass die Sonne sich um die Erde dreht). Und was das Weiterleben nach dem Tod angeht: Kaum ein neurowissenschaftlicher Bewusstseinsforscher zieht diese Möglichkeit heute noch ernsthaft in Betracht. Einer organisierten Religion anzugehören, bedeutet deshalb heute, sich Dogmen zu unterwerfen, die einer Überprüfung nicht standhalten. Das ist vorsätzliche Selbsttäuschung – bei der man unterm Strich nichts gewinnt. Denn die Religionen bringen auch heute noch unendlich viel Leid über die Menschheit. Sie zu überwinden, wäre also nicht nur redlich, sondern auch wünschenswert.

Was halten Sie davon? Möchten Sie es sich durch den Kopf gehen lassen, bevor Sie weiterlesen?

 

Dogmatismus

Ich sehe die Sache so:

Zunächst fällt mir auf, dass Metzinger dogmatischer auftritt als die Gläubigen, denen er Dogmatismus vorwirft. Menschen, die sich in organisierten Religionen bewegen, glauben heute anders als Metzinger sich das vorstellt. Zumindest in Europa treten die meisten eben nicht mit dem Anspruch auf, dass ihre Religion die einzig wahre, alle anderen dagegen falsch seien. Sie sind sich bewusst, dass Zugehörigkeit zu einer spezifischen Religion oder Konfession auch mit Familientraditionen und Kindheitserfahrungen zu tun hat. Sie unterwerfen ihren Verstand nicht religiösen Dogmen, sondern fassen die Vorstellungen, die in ihrer religiösen Umwelt gepflegt werden, als Bilder auf, als Fingerzeige auf etwas, das sie nicht verstehen. Natürlich gibt es auch andere Glaubenshaltungen, aber diese ist mittlerweile so verbreitet, dass Metzinger sie nicht unterschlagen sollte, wenn er über die organisierten Religionen urteilt.

Mit dem Tod ist alles aus – das ist für Metzinger die harte Realität, der wir Gläubigen ausweichen wollen. Doch die Realität ist, dass wir nicht wissen, ob und wie es nach dem Tod weitergeht. Und dieser Realität stellt sich ein Priester eher als Metzinger selbst. Denn ein Priester behauptet eben nicht, dass er das wüsste; er spricht nur von Glauben.

Für die Existenz Gottes haben vier Jahrtausende kein einziges überzeugendes Argument erbracht? Doch, das haben die früheren Jahrtausende sehr wohl. Freilich nur Argumente, die die Menschen damals überzeugten. Mehr war auch nicht zu erwarten. Als Paulus für die Existenz Gottes argumentierte, konnte er noch nicht die Evolutionstheorie berücksichtigen. Nicht nur der Wissenschaft, auch der Religion müssen wir zugestehen, dass sie sich weiterentwickelt.

Was die nicht vorhandenen empirischen Belege für die Existenz Gottes angeht: Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Überall auf der Welt machen Menschen ständig Erfahrungen, die sie als Fingerzeig in eine metaphysische Welt auffassen. Aber aus genau diesem Grund werden diese Erfahrungen von den Wissenschaftlern nicht ernst genommen. Was ist mit der Mutter, die berichtet, sie hätte in dem Moment, als ihr Sohn tausende Kilometer entfernt im Krieg fiel, dies genau gespürt? Mit Ärzten, die Heilungen dokumentieren, die nach unserem heutigen wissenschaftlichen Stand nicht möglich sind? Oder mit dem Bericht des Krankenpflegers, wonach sich ein Patient an Ereignisse bei seiner Notaufnahme erinnerte, die er in seinem damaligen Zustand nicht wahrgenommen haben kann?

Derartige Berichte als irrelevant abzutun, fällt auch deshalb leicht, weil sie nicht im Labor passieren, sondern im richtigen Leben. Daher sind sie nicht wiederholbar, entsprechen also nicht den Anforderungen der Wissenschaft. So lassen sie sich nach folgendem Rezept erledigen: Man definiere die Spielregeln so, dass irritierende Phänomene gar nicht erst in Betracht kommen – und behaupte dann, dass es sie nicht gibt.

Zur Intuition als fragwürdiger Erkenntnisquelle: Ja, die Intuition kann in die Irre führen. Trotzdem erfahren wir im Alltag jeden Tag, dass wir auf sie angewiesen sind. Dass also ein Erkenntnismittel täuschungsanfällig ist, bedeutet noch nicht, dass wir auf es verzichten könnten. Es gibt nun einmal Bereiche, in denen wir mit der Möglichkeit der Täuschung leben müssen. Der Bereich des Religiösen gehört offensichtlich dazu. Das sollte uns Anlass geben, hier behutsam und tastend vorzugehen. Aber wenn die Frage, worauf es im Leben ankommt, relevant ist – und welche Frage sollte relevanter sein? –, und wenn wir in dieser Frage ohne Intuition nicht weiterkommen: Dann müssen wir hier eben doch intuitiv vorgehen und mit dem Risiko der Täuschung leben.

Zum Weiterleben nach dem Tod: Kaum ein neurowissenschaftlicher Bewusstseinsforscher, berichtet Metzinger, zieht diese Möglichkeit in Betracht. Mag sein. Aber spricht das nun gegen diese Möglichkeit – oder für das Ungenügen des neurowissenschaftlichen Blickwinkels?

 

 

Wissenschaftlich nach Gott fragen?

Machen wir uns klar, worüber wir reden, wenn wir uns mit den Fragen nach Gott und Unsterblichkeit beschäftigen: Wir erörtern die Möglichkeit, dass es eine Intelligenz gibt, die uns überlegen ist. Wenn wir diese Möglichkeit ernst nehmen – und das müssen wir, wenn wir sie prüfen wollen –, dann sind wir an einem Punkt, an dem unsere herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden nicht greifen. Denn diese Methoden wurden für Gegenstände entwickelt, die uns eben nicht überlegen sind. Gegenstände, die wir sozusagen überlisten können.

Eine Labormaus weiß nicht, worauf der Wissenschaftler hinaus will, der sie ins Labyrinth schickt: Der Versuch ist ihr egal, sie will zu ihrem Käse. Aber eine uns überlegene Intelligenz – wenn es sie denn gibt – wird nicht durch unser Labyrinth wuseln, sobald wir die Klappe fallen lassen. Sie durchschaut unseren Versuchsaufbau. Wie sollte der Versuch da gelingen?

Wenn es eine solche, uns überlegene Intelligenz gibt: Warum sollte sie sich ausgerechnet denen mitteilen, die ihr Erkenntnisse abzwingen wollen, indem sie sie mit wissenschaftlichen Methoden traktieren? Anders gefragt: Warum sollte Gott sich ausgerechnet denen mitteilen, die ihn behandeln, als wäre er ihnen unterlegen, als wäre er eine Labormaus – den Wissenschaftlern also? Vielleicht teilt Gott sich lieber Menschen mit, die Qualitäten einbringen wie charakterliche Reife, Achtsamkeit, Reinheit des Herzens? Vielleicht teilt er sich lieber einer Krankenschwester mit, die das Herz am rechten Fleck hat?

Natürlich können wir nicht wissen, ob es so ist. Aber wir können feststellen: Falls Gott sich mitfühlenden Krankenschwestern und -pflegern mitteilen möchte, scheint ihm das gar nicht so schlecht zu gelingen. Denn die glauben tatsächlich – Bewusstseinsforschung hin oder her. Jedenfalls finden sich in dieser Gruppe mehr Gläubige als unter Wissenschaftlern.

An dieser Stelle könnte sich Unwille regen: Warum sollten wir den Wissenschaftlern das „Herz am rechten Fleck“ absprechen? Setzt denn nicht gerade die Wissenschaft charakterliche Reife voraus? Sind nicht auch Wissenschaftler achtsam? Sind denn nicht gerade sie in ihrem unbedingten Wahrheitsstreben besonders rein, ja: Sind denn nicht im Grunde sie die Heiligen unserer Tage?

Bei allem Respekt: Das sind sie nicht. So viel man der Religion auch vorwerfen mag: Atombomben, biologische Waffen, chemische Kampfstoffe, Klimawandel und viele andere Scheußlichkeiten sind nicht Ergebnisse angewandter Religion, sondern angewandter Wissenschaft.

Natürlich verdanken wir der Wissenschaft auch unendlich viele Dinge, die Leben retten und die unser Leben angenehmer machen. Und natürlich hilft uns Wissenschaftsfeindlichkeit nicht weiter: Die Gefahren, die uns die Wissenschaft eingebrockt hat, können wir nur mit ihrer Hilfe bändigen. Aber Wissenschaft ist eben nicht uneingeschränkt positiv. Sie ist beides, gut und schlecht.

Was nun die Kompetenz der Wissenschaftler für die Fragen nach Gott und Unsterblichkeit angeht: Ich sehe nicht ein, warum sich Gott – wenn es ihn gibt – weniger einer Krankenschwester mitteilen sollte als einem Wissenschaftler, der Ratten ersticken lässt, um dem Geheimnis der Nahtoderfahrung auf die Spur zu kommen.

 

Gregor Bauer