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Christen heute, April 2019

Was ist dran an der Parapsychologie?

Die Leiterin einer Kindertagesstätte erzählt: Als sie Studentin war, erschien ihr im Traum ihr verstorbener Großvater und ermahnte sie, die Fenster ihres Zimmers zu verschließen. Eine halbe Stunde später hörte sie einen Schrei aus einem benachbarten Raum: Ein Einbrecher war dort eingedrungen. Auf seinem Weg dorthin war er direkt an ihren Fenstern vorbei geklettert, die sie auf ihren Traum hin verschlossen hatte.

(Nach: Bill & Judy Guggenheim, Hello From Heaven!, New York 1996, E-Book-Seite 121)

Wenn wir die Natur und ihre Gesetze untersuchen, dann lassen wir alles Übernatürliche besser außen vor. Diese Entscheidung hat sich seit Jahrhunderten als richtig erwiesen. Die Pest lässt sich nun einmal besser bekämpfen, wenn man ihren Erreger mit den Mitteln der Wissenschaft erkennt und besiegt, als wenn man ihn in überfüllten Sühnegottesdiensten eifernd weiter verbreitet. Solche Triumphe der Wissenschaft über die Religion haben viele Wissenschaftler überzeugt: Dass es etwas Übernatürliches gebe, sei ausgeschlossen. Und zwar inzwischen nicht mehr nur methodisch, sondern auch faktisch.

Dieses klare Statement hat wiederum andere zum Widerspruch gereizt. Die Rede ist nicht von Religionsvertretern. Sondern von Forschenden, die das naturwissenschaftliche Weltbild zum Ausgangspunkt nehmen und von hier aus fragen: Gibt es Phänomene – so genannte „Psi-Phänomene“ –, die sich mit diesem Weltbild nicht vereinbaren lassen?

 

Sind Parapsychologen Wissenschaftler?

Darf man Forschende, die solche Fragen stellen, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bezeichnen? Nun, immerhin haben fast alle von ihnen eine wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen. Die meisten sind an Hochschulen tätig. Doch hat der Name ihrer Disziplin einen anrüchigen Klang: „Parapsychologie“ oder auch „Para-Wissenschaften“. Wer so etwas treibt, gilt als ungeeignet für seriöse Wissenschaft.

Zu Recht? Was tun Para-Wissenschaftler eigentlich? Betrachten wir als Beispiel ein alltägliches Phänomen. Viele Hundehalter behaupten: „Mein Hund spürt genau, wann ich nach einem Arbeitstag nach Hause zurückkehre. Meine Familie kann es bezeugen: Eine Viertelstunde bevor ich zu Hause bin, wird der Hund unruhig. Und das, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch kilometerweit entfernt auf der Autobahn unterwegs bin. Und obwohl ich zu ganz unterschiedlichen Tageszeiten nach Hause komme.“

Würde das nicht bedeuten, dass manche Hunde über eine Fernwahrnehmung verfügen, die mit den heute bekannten Gesetzen der Physik nicht vereinbar ist? Darf man untersuchen, ob dem tatsächlich so ist?

Para-Wissenschaftlerinnen tun das. Und sie untersuchen noch viele andere rätselhafte Phänomene: Können Menschen spüren, dass sie von hinten angestarrt werden? Gibt es Menschen, die ohne technische Hilfsmittel beschreiben können, was gerade an einem weit entfernten Ort passiert? Oder Menschen, die künftige Ereignisse vorhersehen oder in die Vergangenheit schauen können? Lässt sich Materie durch geistige Fernwirkung beeinflussen? Stehen tatsächlich manche Uhren in dem Moment still, in dem ihre Besitzerin oder ihr Besitzer stirbt? Gibt es medizinisch unerklärliche Heilungen? Können sich manche Verstorbene ihren Hinterbliebenen mitteilen? 

Wohlgemerkt: Para-Wissenschaftler behaupten nicht, dass all diese Phänomene bewiesene Tatsachen seien. Der Unterschied zu den etablierten Wissenschaften ist ein anderer: Para-Wissenschaftler schließen die Möglichkeit derartiger Phänomene nicht von vorneherein aus, sondern untersuchen sie mit – so jedenfalls ihr eigener Anspruch – wissenschaftlichen Methoden.

 

Wechselwirkungen zwischen „Para-“ und „seriös“

Damit wären also die Grenzen zwischen Wissenschaften und Para-Wissenschaften klar gesteckt? Nun, die Wirklichkeit ist komplizierter. Es gibt als seriös anerkannte Wissenschaftler, die sich mit Para-Phänomenen beschäftigen, und Para-Wissenschaftler, die sich in anerkannten Wissenschaften einen Namen machen. Arbeiten von Parapsychologen sind bereits in den angesehensten Wissenschafts-Journalen erschienen. Umgekehrt haben in der als parapsychologisch geltenden „Society for Psychical Research“ bereits etliche Nobelpreisträger mitgewirkt. Es gibt Parapsychologen, die Psi-Phänomene auf natürliche Weise zu erklären versuchen, beispielsweise durch quantenmechanische Effekte. Es gab Materialisten, die Para-Phänomene für die Sowjetunion militärisch nutzbar machen wollten. Und es gibt anerkannte Wissenschaftsdisziplinen, die Methoden aus der Para-Forschung übernommen haben, beispielsweise in der Statistik.

Und auch das gehört ins Wimmelbild der Wechselwirkungen zwischen beiden Welten: Wissenschaftler, die ihren Kollegen aus den Para-Wissenschaften unter dem Siegel der Verschwiegenheit persönliche Psi-Erfahrungen anvertrauen, zu denen sie sich niemals öffentlich bekennen würden.

 

Pro und Contra

Wie steht es also: Ist es den Para-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern gelungen, Psi-Phänomene als real zu erweisen? Oder haben es umgekehrt die Wissenschaftler geschafft, ihre Kollegen aus der Para-Welt als Scharlatane zu entlarven und die Unmöglichkeit von Psi nachzuweisen?

Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Die Position der Para-Gegner ist in der Wikipedia leicht zugänglich: In deren Artikeln zum Thema wird Parapsychologie durchweg als unwissenschaftlich abgelehnt. Wer auch die Position der Para-Befürworter kennen lernen will, vertreten von den Besten ihres Fachs, dem – oder der – sei das folgende Werk empfohlen:

  • Etzel Careña u. a. (2015): Parapsychology. A Handbook for the 21st Century. Jefferson, North Carolina

Darin kommt übrigens auch ein Gegner der Parapsychologie ausführlich zu Wort: Douglas M. Stokes schildert in einem sehr lesenswerten Kapitel, warum er der Parapsychologie nach vier Jahrzehnten enttäuscht den Rücken gekehrt hat. Dazu gleich mehr.

 

Zwei Vorgehensweisen

Vereinfacht gesagt, lassen sich in den Para-Wissenschaften zwei Vorgehensweisen unterscheiden: Die einen beschäftigen sich mit Berichten über unerklärliche Phänomene. Die anderen versuchen, derartige Phänomene unter Laborbedingungen nachzuweisen.

Berichte über unerklärliche Phänomene gibt es seit Menschengedenken. Oft haben zweifelhafte Berichte Angst und Verwirrung ausgelöst, vielen Menschen wurden sie zum Verhängnis. Man denke nur an die Zeiten der Hexenverfolgung. Die systematische Erfassung von Berichten über Unerklärliches durch Forscher mit wissenschaftlichem Hintergrund begann spätestens 1882 mit der Gründung der britischen Society for Psychical Research. Ihr verdanken wir unter anderem eine umfangreiche Sammlung von Berichten über rätselhafte Erfahrungen in Todesnähe. Sehr häufig – und auch heute von Hospiz-Mitarbeiterinnen bestätigt – sind Visionen Sterbender von geliebten Verstorbenen. Immer wieder berichtet wird, dass sterbende Demente kurz vor ihrem Tod eine geistige Klarheit zeigen, mit der niemand mehr rechnen konnte. Auch Nachtod-Kontakte sind vielfach dokumentiert.

Derartige Berichte können aufgeschlossene Personen von der Realität des Übernatürlichen überzeugen oder sie in ihrem Glauben daran bestärken. Als wissenschaftliche Beweise können sie freilich nicht gelten. Para-Skeptiker Stokes erläutert das in seinem Handbook-Kapitel am Beispiel eines erstaunlichen Wahrsage-Traums: Der Träumer könnte seinen Traum ausgeschmückt haben, sich falsch erinnern, das künftige Ereignis könnte bereits absehbar gewesen sein, der ganze Bericht könnte frei erfunden sein.

Deshalb befassen sich viele Parapsychologen nicht mit derartigen Berichten und versuchen stattdessen, das Übernatürliche unter Laborbedingungen wissenschaftlich zu beweisen. Grob vereinfacht, kann man sich ihre Versuche ungefähr so vorstellen: Eine Person A sitzt in einem Raum A, eine Person B in einem für A unzugänglichen Raum B. Person A muss nun raten, welche von – sagen wir – vier Karten Person B wählt, beispielsweise Ass, Pique, Herz oder Karo. Wenn Person A so häufig richtig rät, dass reine Zufallstreffer statistisch nicht mehr ernsthaft in Betracht kommen: Dann werten Parapsychologen das als Indiz für eine Gedankenübertragung, die innerhalb des heutigen wissenschaftlichen Weltbilds nicht erklärbar ist.

 

Was taugen (para-)wissenschaftliche Studien?

Gibt es aussagekräftige parapsychologische Laborstudien, und wurden sie durch Folgestudien bestätigt?

Viele Parapsychologen würden mit ja antworten. Nach ihrer Überzeugung gibt es etliche Untersuchungen, die unter Laborbedingungen durchgeführt wurden und die beispielsweise telepathische Fähigkeiten mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit nachweisen. Doch Para-Skeptiker Stokes vermutet, dass die positiven Ergebnisse dieser Studien teils auf methodische Fehler zurückzuführen sind, teils auf Betrug. Und das nicht etwa, weil er Para-Wissenschaftler für betrügerischer hielte als ihre Kollegen aus den anerkannten Disziplinen: Betrug, so Stokes, gibt es hier wie dort. In der biomedizinischen Forschung beispielsweise hält er eine Betrugsrate von 9 % für vorsichtig geschätzt. In der Psychologie arbeiteten etwa 10 % der Forscher auf Basis falscher Daten, viele Studienergebnisse lassen sich in Folgestudien nicht bestätigen. Wenn man nun aber annimmt, dass in der Parapsychologie Täuschung und Betrug auch nur ebenso häufig vorkommen wie in den seriösen Wissenschaften: Dann, so Stokes, bleibt von den Ergebnissen ihrer Laborstudien nichts übrig. Kritik an derartigen Studien kommt auch von der Ex-Parapsychologin Susan Blackmore; verteidigt werden sie beispielsweise von Dean Radin.

Ich selbst fühle mich nicht in der Lage zu beurteilen, wer hier recht hat. Dem Skeptiker Stokes stimme ich zumindest darin zu, dass Studien generell mit Vorsicht zu genießen sind. Beispielsweise kann ich nicht glauben, dass Frauen, die sich für eine Abtreibung entscheiden, mit keinen gravierenden seelischen Folgen rechnen müssen, wie Studien angeblich ergeben haben.

 

Jenseits der Labore

Stokes Kritik an den Para-Wissenschaften bezieht sich vor allem auf deren Versuche, einen „Psi-Faktor“ unter Laborbedingungen nachzuweisen. Auf einem ganz anderen Blatt stehen Forschungen „im Feld“, beispielsweise an Wallfahrtsorten wie Lourdes. Dort hat zwischen 1954 und 1984 ein internationales Ärzteteam 19 Heilungen als medizinisch und wissenschaftlich nicht erklärbar eingestuft. Parapsychologen zeigen an solchen „Geistheilungen“ großes Interesse, legen sich freilich nicht fest, worauf oder auf wen sie zurückzuführen seien.

Doch zurück zu den zahlreichen Berichten, in denen nicht Ärzteteams, sondern persönlich Betroffene über paranormale Ereignisse berichten. Manche Para-Wissenschaftler hegen die Hoffnung, dass ihre Labor-Forschung derartige Berichte überflüssig machen könnte. Denn Erlebnisberichte bleiben nun einmal wegen ihres anekdotischen Charakters stets angreifbar. Bisher jedoch hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt.

Offenbar bleibt die Para-Wissenschaft auf Erlebnisberichte angewiesen. Wer solche Berichte ernst nimmt, kann den Eindruck gewinnen, dass paranormale Erfahrungen nichts Außergewöhnliches, sondern geradezu alltäglich sind.

 

Fragen an die Theologie

Dass bei der Aneignung von Berichten über Unerklärliches der Faktor Vertrauen eine Rolle spielt, sollte eigentlich gläubige Christen am wenigsten abschrecken. Dennoch verhalten sich wohl die meisten Theologinnen und Theologen gegenüber der Parapsychologie eher reserviert. Warum ist das so? Sicherlich: Manche parapsychologischen Praktiken sind tatsächlich mit dem biblischen Glauben unvereinbar. Aber davon abgesehen: Könnte es sein, dass die Parapsychologen zu ungeniert wildern in den Claims, die Theologie, Natur- und Geisteswissenschaften untereinander abgesteckt haben? Irritieren Parapsychologen, weil sie sich nicht um die „Entmythologisierung“ scheren, auf die viele Theologen so stolz sind? Stört das parapsychologische Interesse an Wundern den aufgeklärten Konsens? Weckt es Neid, dass Parapsychologen sich nicht daran abarbeiten müssen, vorwissenschaftliche religiöse Traditionen mit den Naturwissenschaften in Einklang zu bringen? Sind Parapsychologen peinlich, weil sie es mit dem Angstgegner Naturwissenschaft aufnehmen? Weil sie in Felder vordringen, die die Theologie bereits verloren glaubte? Tappen Parapsychologen zu unbedacht in die Fettnäpfchen theologischer Befindlichkeiten, indem sie sich bald für die angeblich erzkonservative Marienverehrung interessieren, bald dem als modisch geltenden Reinkarnationsglauben Argumente liefern? Oder schmerzt es Theologen, dass sie der Zerstörung des Transzendenten durch die „harten“ Wissenschaften im Grunde nichts entgegenzusetzen haben, die Para-Wissenschaftler aber schon?

Die Parapsychologie kann die Religion nicht ersetzen, hat mit ihr aber eines gemeinsam: Beide sind unvereinbar mit einem geschlossenen reduktionistischen Weltbild, in dem für Transzendenz kein Platz ist. Parapsychologinnen und -psychologen arbeiten daran, dieses Weltbild aufzubrechen.

 

Gregor Bauer