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Christen heute, November 2015

Sokrates im Hospiz

Kaum einen Geist drängt es so sehr, die Bücher zu verlassen, in die er gebannt wurde, wie den Geist des Sokrates. Nicht, dass an diesen Büchern etwas auszusetzen wäre: Platons „Apologie“ etwa, sein „Gastmahl“, seine „sokratischen“ Dialoge, also die frühen und einige der mittleren – das alles liest sich auch ohne Vorbildung überraschend leicht. Die wenigen schwer lesbaren Passagen sind nicht so wichtig und lassen sich überblättern. Doch Sokrates will partout raus aus diesen Werken und überallhin mit. Deshalb tue ich hier etwas für ihn, was ihm freilich auch wieder nicht recht ist: Ich verweigere ihm den tödlichen Schierlingsbecher, den er 399 vor Christus trank, mache die assistierte Hinrichtung von damals also ungeschehen, und lasse Sokrates stattdessen in einem Hospiz unserer Tage eines natürlichen Todes sterben.

 

Sokrates – ein Vorbild?

In der Antike galt Sokrates als Vorbild, auch in seinem Sterben, wie Platon es im „Phaidon“ schildert. Doch im Hospiz gibt es keine Vorbilder. Jeder Mensch stirbt anders, und niemand hat das zu bewerten. Sicherlich, dass Sokrates bis zuletzt heiter und gefasst blieb, zeugt von innerer Stärke. Das wird auch im Hospiz niemand bestreiten. Aber im Zimmer neben Sokrates liegt ein Mensch, dem angesichts seines nahen Endes nicht sokratisch heiter zumute ist, sondern bitter und ängstlich. Vielleicht liegt die Stärke dieses Menschen darin, dass er diese Gefühle zeigt und durchlebt, statt den starken Sokrates zu spielen? Wann sonst soll ein Mensch aufrichtig sein, wenn nicht angesichts seines Todes?

 

Sokrates – ein Streetworker?

Einen Tag nach der Ankunft des Sokrates im Hospiz bereitet sich die ehrenamtliche Hospiz-Begleiterin Gerda auf ihren Einsatz vor. Wer ist der Neue in Zimmer H 007? Gerda stutzt: Sokrates – den kennt sie! Das ist doch dieser aufdringliche Typ, der sich jahrelang aufführte, als wäre er der Streetworker vom Dienst. Den lieben langen Tag stromerte er durch die Stadt, umgeben von respektlosen jungen Leuten, die sich diebisch freuten, wenn es ihm wieder einmal gelang, harmlose Passanten in peinliche Gespräche zu verwickeln.  

Einmal hatte er auch Gerda ein solches Gespräch aufgenötigt. Zunächst hatte er sich in charmantem Plauderton nach ihrem Beruf erkundigt. Doch bald hatte der Dialog eine unangenehme Wendung genommen: Warum Gerda denn gerade das tue, was sie tue, wollte er wissen. Ob sie sich denn wirklich auf ihr Fach verstünde. Ob es auch Dinge gebe, die zwar wichtig seien, von denen sie aber dennoch keine Ahnung habe. Warum sie sich bisher nicht mit diesen Dingen beschäftigt habe. Was denn das Wichtigste im Leben sei. Das wisse sie nicht? Dann habe sie wohl ihr gesetztes Alter erreicht, ohne sich darüber jemals ernstlich Gedanken gemacht zu haben?

Sie hatte sich tapfer verteidigt, aber er hatte alles zerpflückt, was sie ihm antwortete. Begriffe, die täglich in aller Munde sind, nahm er auseinander, bis sie selbst nicht mehr wusste, was sie damit eigentlich hatte sagen wollen. Irgendwann stand sie vor den grinsenden jungen Leuten da wie eine, die bisher nur gedankenlos vor sich hingelebt hatte und die deshalb unfähig war, über ihr Tun und Lassen Rechenschaft abzulegen. Das war der Punkt, an dem andere blamiert die Flucht ergriffen hätten. Doch Gerda ging zum Gegenangriff über, rügte seinen respektlosen Ton, seine selbstgefällige Selbstinszenierung vor seinen sensationsgierigen Fans. Nun seinerseits in die Enge gedrängt, berief sich Sokrates darauf, dass er durchaus ein ernsthaftes Anliegen verfolge: Er wolle Menschen besser machen. Auch das noch!

 

Misserfolgsbilanz

All das kommt Gerda wieder in den Sinn, als sie nun im Hospiz mit dem Abendessen auf dem Tablett das Zimmer des Sokrates betritt. Ob es diesem Wortverdreher wohl gelungen ist, Menschen besser zu machen? Sie kann es sich nicht verkneifen, ihn danach zu fragen. „Niemanden habe ich gebessert“, antwortet ihr Sokrates, „schlimmer noch: Ich habe nicht einmal herausgefunden, was das überhaupt ist – gut sein. Nur so viel weiß ich darüber: Das, was meine größten Fans aus ihrem Leben gemacht haben, ist es nicht. Einer wurde ein blasphemischer Verächter der Götter, ein anderer ein Betrüger und Verleumder. Zwei haben an einem Terrorregime mitgewirkt, das auch mich in seine Verbrechen hineinziehen wollte. Und der schlimmste von allen, Alkibiades, hat ein ganzes Heer in ein militärisches Abenteuer geführt und es anschließend den Feinden ans Messer geliefert. Gut sein – das lässt sich offenbar nicht lehren. Oder habe nur ich es nicht gekonnt?“

Ein autodidaktischer Lehrer, der nie recht wusste, was er lehrte, ob er überhaupt etwas lehrte, und dessen Schüler ihm schrecklich missraten sind: Das sieht nach einer vernichtenden Lebensbilanz aus. Doch Sokrates wirkt heiter. Er ist zuversichtlich, dass ihn nach seinem Tod Erfreuliches erwartet. Das ist schön, findet Gerda. Warum nur ist er so versessen darauf, dass sie ihm das Gegenteil beweist?

 

Glaube und Zweifel

Wie Platon erzählt, hat Sokrates noch an seinem letzten Tag seine Freunde dazu ermuntert, seinen Glauben an das Jenseits zu widerlegen. Hat Sokrates also bis zuletzt alles angezweifelt? War er denn nun gläubig oder nicht?

Mir scheint: Sokrates war ein notorischer Zweifler – aber aus religiöser Überzeugung. Laut Xenophon war er überzeugt, dass die Götter alles wissen, was wir tun, sagen und denken. Angesichts dieser göttlichen Allgegenwart blieb ihm nur radikale Aufrichtigkeit – und damit Zweifel: „Glauben“ im Sinn von „sich selbst belügen“ war für ihn keine Option.

„Erkenne dich selbst!“, das Motto am Eingang des Delphischen Heiligtums, hat Sokrates ebenfalls gläubig angenommen – und umgesetzt als Programm des radikalen Selbstzweifels. Doch offenbar führten ihn all seine Zweifel, zu Ende gedacht, immer wieder auf festen Grund.

 

Anspruch und Wirklichkeit

Ob dieser Grund auch getragen hätte, wenn Sokrates nicht eines gewaltsamen Todes gestorben wäre? Das kann niemand sagen. Wie der natürliche Sterbeprozess uns einmal verändern wird, können wir nicht wissen. Am Ende des Lebens gibt es alles: auch Pfarrer, die schwer, und Atheisten, die leicht sterben. Vielleicht holt uns am Ende unser Kinderglaube wieder ein, und alle religionskritischen Gedanken, die wir uns ein Leben lang gemacht haben, sind Makulatur. Oder unser Glaube bricht in sich zusammen, obwohl wir ihn ein Leben lang eifrig genährt haben. Oder aber wir entdecken auf den letzten Metern in uns eine Glaubenszuversicht, von der wir ein Leben lang nichts ahnten.

 

Was können wir tun?

Können wir also nichts tun, um uns auf unseren Tod vorzubereiten? Nichts, was uns absolute Sicherheit gibt. Dennoch nehme ich an erfahrenen Hospiz-Begleiterinnen – Männer gibt es in diesem Bereich nur wenige – eine tiefe Ruhe und Zuversicht wahr. Wenn ich sie frage, welche Menschen friedlich sterben, sagen sie mir: Harmonie in der Familie hilft. Gefährlich sind Formen konservativer Religiosität, in denen Hölle und Fegefeuer eine große Rolle spielen. Gottvertrauen trägt, wenn es echt ist. Was wir tun können? Nichts lässt sich erzwingen. Schön, wenn positive Spiritualität ganz von selbst in uns wächst. Dann sollten wir sie wachsen lassen.

 

Wo Gerda auf Distanz geht

So unangenehm Sokrates als „Streetworker“ war, so angenehm ist er als Gast im Hospiz: Sein Leben lang hat er eifrig Philosophie getrieben als Vorbereitung auf einen guten Tod. Jetzt, wo der Tod anklopft, ist er zuversichtlich, dass er bald die Früchte ernten darf.

Gerda hat Hochachtung vor seiner Haltung. Aber sie weiß auch: Im Hospiz wohnen nicht nur Menschen, die sich auf ihren Tod vorbereitet haben. Was ist mit den anderen? Von ewiger Verdammnis bedroht sieht Sokrates nur notorische Schwerstverbrecher. Und nicht etwa – wie später die Kirchenväter – alle, die von einer religiösen Doktrin auch nur minimal abweichen. Aber auch Sokrates erwartet, dass Schwächen wie Neid, Zorn oder Denkfaulheit im Jenseits hart bestraft werden. Das findet Gerda unerträglich. Sie lässt sich den Glauben nicht nehmen, dass Gott nicht nur dem Tugend-Champion Sokrates gnädig ist, sondern auch seinen Zimmernachbarn.

 

Aufrichtigkeit

Verabschieden wir uns nun von Sokrates. Möge ihm der Schluck aus der Schnabeltasse, den ihm Gerda abschließend anreicht, wohl bekommen. Und möge seine innere Stimme, die er für die Stimme der Götter hielt, ihn gut leiten. Gerda ist zuversichtlich. Denn hier liegt einer, der sich keinem Zweifel an seinen religiösen Gewissheiten verschlossen hat – und der gerade deshalb, als man ihn wegen Gottlosigkeit verklagte, sagen konnte: „Ich glaube an die Götter wie keiner meiner Ankläger.“ Was nicht unbedingt bedeuten muss, dass er sich seiner Sache sicherer war als sie: Anzunehmen, dass wir unsterblich sind und dass es deshalb besser ist, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun – das hielt Sokrates für ein Wagnis. Aber er wusste, warum er es einging: „Es ist ein schönes Wagnis.“

Dieser Beitrag basiert unter anderem auf Erfahrungen aus einem Kurs zur ehrenamtlichen Begleitung von Menschen am Lebensende im Wiesbadener Hospiz Advena.

Gregor Bauer