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Christen heute, September 2015

Unmenschlich vernünftig

Griechische Dichter und Denker des 8. bis 5. Jahrhundert vor Christus

Wenn der Mensch anfängt selbst zu denken und das Althergebrachte kritisch zu hinterfragen: Führt das zur Überwindung von Krieg und Unterdrückung – oder wird alles nur noch schlimmer? Die alten Griechen haben dazu einiges zu sagen. Noch im 8.und 7. Jahrhunderts vor Christus unreflektiert fromm, begannen sie ab dem 6. Jahrhundert, ihre Götter in Zweifel zu ziehen. Im 5. Jahrhundert schließlich machten Freidenker den Mensch zum Maß aller Dinge. Ist er dadurch menschlicher geworden?

 

Phase 1: Unreflektierte Frömmigkeit (8. und 7. Jh. v. Chr.)

Was waren doch die Götter und Göttinnen für Prachtexemplare, bevor die Theologen sie an die Kandare nahmen! Bei Homer (2. Hälfte 8. Jahrhundert v. Chr.) lügen, verführen und morden sie noch nach Herzenslust. Auch bei Hesiod (* vor 700 v. Chr.) dürfen sie sich noch austoben. Nacht für Nacht zeugt der Himmelsgott mit der Erdgöttin Kinder, darunter ziemlich gruselige, und sperrt sie weg, bis ein besonders findiger Sprößling – Kronos – ihn entmannt und die Weltherrschaft übernimmt, die ihm wiederum von seinem Sohn Zeus geraubt wird. Zeus regiert – nach einem gewaltigen Zweikampf mit dem Höllendrachen Typhoeus – die Welt halbwegs anständig. Offensichtlich glaubt Hesiod – anders als Homer –, dass es in der Welt im Großen und Ganzen gerecht zugeht.

 

Phase 2: Erste Zweifel (ab dem 6. Jh. v. Chr)

Xenophanes (ca. 570–475) griff die homerischen Götter frontal an. Im Ausland war dem wandernden Sänger nicht entgangen, wie sehr die religiösen Vorstellungen der Völker einander widersprachen. Das brachte ihn ins Grübeln: Offenbar können wir Menschen gar nicht anders, als unser Bild von den Göttern unserer Vorstellungswelt zu entlehnen. Wie sollten wir da in der Lage sein, die Götter zu erkennen, wie sie wirklich sind? Ernüchtert konstatierte er: „Nur Wahn ist allen beschieden.“

Unter Druck gerieten die Götter auch durch physikalische Weltversteher: Bereits Thales (ca. 624–546) hatte behauptet, dass alles aus nur einem einzigen Urstoff bestehe. Anaximander (ca. 610–545) hatte hinter fernem Donnergrollen keine wutschnaubenden Götter mehr vermutet, sondern geplatzte Druckluftwolken. Leukipp (5. Jh.) und Demokrit (ca. 460–ca. 370) entwickelten schließlich die erste Atomtheorie: Alles – auch der Geist – bestehe aus winzigen Teilchen, den Atomen, und leerem Raum. All das war weniger atheistisch, als es scheinen mag: Xenophanes bekannte sich zum Monotheismus; Thales glaubte alles von Göttern erfüllt; Anaximander sah in der Natur das religiöse Gesetz von Schuld und Sühne verankert; Demokrit nahm die Götter gegen die Dummheit der Menschen in Schutz.

Das Vertrauen in die Vernunft trieb sonderbare Blüten. Parmenides (ca. 540–470) war durch vernünftige Überlegungen zu dem Schluss gekommen, dass sich nichts bewegt, nirgendwo. Dass die Sinne uns täglich, das Gegenteil beweisen, ist egal: Wenn Vernunft und Sinne einander widersprechen, hat die Vernunft recht. Schon damals wurde Parmenides dafür ausgelacht. Doch könnten wir heute über das Verhältnis von Geist und Materie nicht einmal nachdenken ohne Pioniere wie ihn und später Anaxagoras (ca. 500–428), der Geist und Materie zu unterscheiden suchte.

Den Volksglauben an die vitalen Götter konnten solche Ideen nicht erschüttern. In Athen verfolgten die Menschen gebannt die Tragödien des frommen Aischylos (525–456), eines Eingeweihten in die Mysterien seiner Geburtsstadt Eleusis. Bei ihm begegnet bereits die Frage, die später den Glauben vieler Christen erodieren sollte: Wie kann es sein, dass die Götter – beziehungsweise später der eine Gott – Leid und Unrecht in der Welt zulassen? Trost scheint Aischylos in dem Gedanken gefunden zu haben, dass Leid eine Quelle tiefer Erkenntnis sei: „Die Göttin der Gerechtigkeit wägt nur dem Leidenden die Gabe des Lernens zu.“

 

Phase 3: Sind alle Werte relativ? (2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr.)

In der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts dominierten Denker von anderem Schrot und Korn: die Sophisten. Sie ließen die Götter hinter sich. Protagoras (481–411) behauptete, niemand könne wissen, ob es die Götter gibt oder nicht: „Dafür ist die Angelegenheit zu dunkel und das Leben zu kurz.“ Solche Zweifel hatten auch einen Xenophanes schon angefallen. Aber erst bei den Sophisten wird daraus ein konsequenter Agnostizismus: Über die Götter können wir nichts wissen? Umso besser! Dann sind auch alle religiösen und moralischen Normen relativ. Das gibt uns die Freiheit, uns unsere Normen so zurechtzulegen, wie es für uns am vorteilhaftesten ist. Hören wir also auf, darüber zu spekulieren, was die Götter wollen. Setzen wir unsere geistigen Kapazitäten nützlicher ein: Erwerben wir die Fähigkeit, andere Menschen geschickt in unserem Sinne zu beeinflussen. So macht Erkenntnis Spaß und ermöglicht ein glückliches Leben – weshalb es auch statthaft ist, für ihre Vermittlung Geld zu verlangen.

Den Widerstand gegen diese Haltung hat Sophokles (497/-6–406/-5) in unsterbliche Verse gegossen. In seiner Tragödie „Antigone“ zeigt er: Es gibt sehr wohl Werte, die sich der sophistischen Relativierung verweigern. Zum Beispiel das Gebot, den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Und sein „König Ödipus“ ist ein einziger wütender Aufschrei: Erkenntnis macht nicht glücklich! Denn sie ist machtlos gegen die abgründige Dimension der Schuld.

In der Gunst des Athener Theaterpublikums lief dem Sophokles ein Dichter den Rang ab, der stark von sophistischem Denken beeinflusst war: Euripides (480 od. 495/-4–406). „Wozu rufe ich die Götter um Hilfe? Sie hören ja doch nicht“, so klingen seine vom Leben tief enttäuschten Figuren. Von metaphysischen Vorgaben unbelastet, studiert Euripides mit psychologischem Spürsinn die Menschen, wie sie nun einmal sind. Oft stellt er dabei Frauen in den Mittelpunkt. Beispielsweise als Opfer des Krieges (Troerinnen), als Rächerin (Medea) oder als sich Aufopfernde voller Selbstzweifel (Alkestis). In den „Bakchen“ reißt eine Königsmutter in religiösem Wahn ihren Sohn in Stücke. Ob Euripides hier zeigen wollte, dass die Vernunft sich von der Religion befreien muss, damit sich wahre Menschlichkeit durchsetzen kann?

 

Phase 4: Weltkrieg (431–404 v. Chr.)

Macht Vernunft menschlicher? Es war ausgerechnet ein „stiller Atheist“, ein mit allen sophistischen Wassern gewaschener Gelehrter, der diese Erwartung als naiv entlarvt hat: der erste wissenschaftlich arbeitende Historiker Thukydides (ca. 460–ca. 398). Der Chronist des Peloponnesischen Krieges, des Weltkriegs seiner Zeit, beschreibt Entstehung und Verlauf des Krieges als einzig durch menschliches Handeln motiviert. Und zwar durch streng rationales Handeln, das – frei von jeder religiösen Motivation – einzig dem eigenen Vorteil folgt.

Thukydides öffnet uns die Augen für eine grausige Erkenntnis: Es ist nicht unvernünftig, unmenschlich zu sein. Warum sollte es unvernünftig sein, Nachbarstädte auszubeuten und den eigenen Einflussbereich kriegerisch auszuweiten? Nüchtern beschreibt Thukydides, wie die Vernunft die Athener in den Krieg führt, ihn vorantreibt und die Menschen zunehmend verrohen lässt. So lässt er die Ausrottung der Jahrhunderte alten melischen Kultur mit einer sehr vernünftigen Diskussion ihren Anfang nehmen.

Am Ende dieses Jahrhunderts war die Vernunft zu sich selbst gekommenen – und die Menschen hatten von ihr die Nase gestrichen voll. Statt Frieden und Wohlstand hatte sie Krieg gebracht, den Zusammenhalt in der Gesellschaft geschwächt und die Menschen aus der Geborgenheit ihrer Traditionen gerissen. So jedenfalls sah es der beliebte Komödiendichter Aristophanes (um 445–nach 385). Vergnügt erlebte sein kriegsmüdes Publikum, wie Frauen ihre kriegswütigen Männer durch Sexentzug zum Frieden zwingen (Lysistrata, 411 v. Chr.) oder wie sie ihre Männer entmachten, um Frieden, Gleichberechtigung, freie Liebe und Gütergemeinschaft durchzusetzen (Weibervolksversammlung, 392 v. Chr.). So verteidigte man damals konservative Werte. In den „Wolken“ (423 v. Chr.) bekam der Vernünftigste von allen sein Fett weg: Sokrates (469–399). Von ihm soll im nächsten Teil unserer Serie die Rede sein.

 

Religion? Vernunft? Menschlichkeit?

Was also lehrt uns Thukydides? Dass Rationalität schlecht ist und unreflektierte Frömmigkeit gut? Natürlich nicht. Aber der Sieg der Vernunft über die Religion scheint die Welt nicht menschlicher zu machen. Wie wäre es damit: Wenn uns im Ernst an Menschlichkeit gelegen ist, dann lasst uns weder die Religion absolut setzen noch ihre Überwindung durch die Vernunft, sondern – Menschlichkeit.

 

Gregor Bauer