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Christen heute, Februar 2022

Für Sie gelesen:

William James, Der Wille zum Glauben (1896)

„Glaub nichts ohne stichhaltige Beweise.“ Mit dieser Forderung setzte sich der amerikanische Psychologe und Philosoph William James (1842–1910) an der Harvard Universität auseinander. Für die meisten seiner Kollegen – der Zugang von Frauen zur Wissenschaft stand in Harvard noch in seinen Anfängen – war diese Forderung eine Selbstverständlichkeit. Schließlich waren die damals schon imposanten Leistungen von Naturwissenschaft und Technik nur möglich geworden, weil unzählige Wissenschaftler die Natur absichtslos und ergebnisoffen erforscht hatten. Die Zurückweisung jeglicher religiöser Vorgaben war da Ehrensache.

Wir finden uns als Glaubende vor
Auch William James fühlte sich diesem Ethos verpflichtet – sah aber auch Anlass, der scheinbar so reinen und selbstlosen Wahrheitsliebe etwas auf den Zahn zu fühlen. Als Psychologe stellte er nüchtern fest: Wir können gar nicht entscheiden, ob wir etwas glauben oder nicht. Wir finden uns als Glaubende vor. Die Studenten von William James konnten nicht anders, als an Moleküle zu glauben, an den Energieerhaltungssatz, an Demokratie und Fortschritt. Und das nicht etwa aufgrund von Beweisen, die sie – selbst wo es sie gab – meist gar nicht nachvollzogen hatten: „Unser Glaube“, sagte James zu ihnen, „ist Glaube an den Glauben anderer“ – in diesem Fall der Vertreter des damaligen Wissenschaftsbetriebs.

Aber warum schenken Wissenschaftler bestimmten Forschungsergebnissen Glauben, während sie andere keines Blickes würdigen? Die Antwort von William James lautet: Weil wir keinen Fakten und Theorien glauben, für die wir keine Verwendung haben. Beispielsweise wüssten Wissenschaftler nichts mit einem Phänomen anzufangen, das die Einheitlichkeit der Natur infrage stellt, die sie voraussetzen. Kommt ihnen also ein Kollege in die Quere, der über Telepathie forscht, so darf er nicht mit ergebnisoffener Aufgeschlossenheit rechnen.  

Wie umgehen mit den irrationalen Anteilen an unserem Glauben?
Auch für Wissenschaftler gilt, so James: Unsere Überzeugungen rühren nicht ausschließlich von Logik und Beweisführung her, sondern sind beeinflusst von irrationalen Anteilen in unserer Natur. Als Psychologe fragt James nun weiter: Hat es mit diesem Einfluss irrationaler Anteile seine Richtigkeit, oder muss er bekämpft werden, weil er krankhaft ist?

Wie differenziert James in seiner Antwort vorgeht, kann ich hier nicht wiedergeben. Deshalb grob vereinfacht nur so viel:

Wissenschaftler haben es in ihrem Forschungsalltag meist mit trivialen Details zu tun. Verhält sich ein chemisches Element bei dieser oder jener Temperatur so oder anders? Für die eigene Lebensführung ist das im Grunde egal. Deshalb fällt es hier nicht schwer, absichtslos die Fakten zu erforschen, und man sollte das auch tun.

Anders verhält es sich, wenn ich beispielsweise die einmalige Gelegenheit erhalte, an einer Expedition zum Nordpol teilzunehmen. Ist es richtig, teilzunehmen? Die Antwort ist hochgradig relevant für mein ganzes weiteres Leben. Deshalb muss hier selbstverständlich meine Natur eine Rolle spielen, mitsamt ihrer irrationalen Anteile.

In solchen Lebenssituationen wäre es geradezu krankhaft, sich ausschließlich darauf zu fokussieren, nur unbedingt jeden denkbaren Fehler mit Sicherheit auszuschließen, wie es die Wissenschaft meist tun muss. Gefordert ist dagegen Mut zum Risiko. Das gilt auch, wenn wir uns auf Vertrauensverhältnisse mit anderen Menschen einlassen.

Und wenn wir vor der Frage stehen, ob wir einen religiösen Glauben annehmen wollen oder nicht: Was ist dann gefordert? Innerlich unbeteiligte Rationalität oder Mut zum Risiko?

 Der Anspruch der Religion
Dazu sagt William James (die heutige Theologie mag das anders sehen): Die Religion verspricht dem Menschen Erlösung, wenn er sich vom Zeitlichen abwendet und auf das Ewige ausrichtet. Sie beansprucht, ihm zeigen zu können, worauf es dabei ankommt, und fordert ihn auf, ihr zu glauben und entsprechend zu handeln.

Eine solche Aufforderung kann ein Mensch nicht jedesmal ernst nehmen, wenn sie ihn erreicht. Denn so etwas beanspruchen die unterschiedlichsten Religionen und Konfessionen, von denen ihm die meisten fremd und unverständlich bleiben.

Wenn ein Mensch eine solche Aufforderung aber ernst nimmt, dann bleibt ihm nur die Wahl, ihr entweder zu folgen oder nicht. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht: Indifferenz ist in diesem Fall gleichbedeutend mit Ablehnung.

Vor eine solche Wahl gestellt, genügt es nicht, sich absichtslos und innerlich unbeteiligt auf das wissenschaftliche Ethos zurückzuziehen: Hier ist der ganze Mensch gefordert, eine Wesensentscheidung zu treffen – soweit er dazu in der Lage ist: Ob ich glauben kann, unterliegt nicht meinem Willen. Ich kann mich nur entschließen, für den Glauben aufgeschlossen zu sein oder eben nicht.

 Nach William James ist vor William James
William James steht für die frühe amerikanische Psychologie, die der ganzen verwirrenden Vielfalt des Menschlichen noch Raum ließ. Nach ihm setzte sich der Behaviorismus durch, der nur gelten ließ, was sich messen lässt. Ein Kurswechsel, der zahllose Laborratten ratlos schnuppernd durch die Labyrinthe der Wissenschaft tapsen ließ auf der Suche nach dem verlorenen Käse. Der Linguist Noam Chomsky vermutete angesichts dieser Entwicklung, „dass wir über das Leben und die Persönlichkeiten von Menschen stets mehr aus Romanen lernen werden, als von der wissenschaftlichen Psychologie.“

Vielleicht sollten wir wieder an William James anknüpfen. Mir jedenfalls drängt sich bei der Lektüre von „The Will to Believe“ der Eindruck auf, dass sich an den Grundfragen in der Auseinandersetzung um Religion und Wissenschaft bis heute wenig geändert hat.

 

Die Werke von William James sind im E-Book-Format auf Deutsch und Englisch in verschiedenen Ausgaben sehr günstig erhältlich. Eine zweisprachige Reclam-Ausgabe von „The Will to Believe“ erscheint im Mai 2022.