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Christen heute, November 2022

Nahtoderfahrungen

 Im Jahr 1991 wurde eine 35-jährige Frau in den USA einer schwierigen Hirnoperation unterzogen: Ein Aneurysma musste entfernt werden. Da es sich sehr ungünstig in der Nähe des Hirnstamms befand, war die Operation äußerst riskant. 

Zunächst versetzte sie der Anästhesist in Bewusstlosigkeit. Die Augen wurden ihr verbunden. Ihre Ohren wurden verschlossen durch Kopfhörer, die während der Operation laufend Geräusche von sich gaben. Sie ermöglichten es, während der gesamten Operation zu überprüfen, ob ihr Gehirn noch abgeschaltet war. Ihre Körpertemperatur wurde auf 15 °C bis 17 °C gesenkt. Während der Operation waren Atmung und Herzschlag ausgesetzt, das Gehirn war nicht mehr durchblutet, in Hirnrinde und Hirnstamm war keine Aktivität mehr messbar. Alle Hirnareale, die normalerweise an der Produktion von Erlebnissen beteiligt sind, waren inaktiv. 

Dennoch berichtete diese Frau später von intensiven Erlebnissen während ihrer Operation. Nach ihrem Bericht begannen diese Erlebnisse kurz bevor ihr Körper herabgekühlt wurde, als der Chirurg ihren Schädel mit einer Säge öffnete. Sie verließ ihren Körper, schwebte über dem Operationstisch und beobachtete von dort aus die Ärzte bei ihrer Arbeit. Später konnte sie Einzelheiten von der Operation berichten, die von den Medizinern bestätigt wurden. Einzelheiten, die sie nur wissen konnte, wenn sie ihre Operation tatsächlich miterlebt hatte. Nach einiger Zeit fühlte sie sich zu einem Licht hingezogen, in dem sie mehrere verstorbene Verwandte erkannte. Nur ungern kehrte sie in ihren Körper zurück. 

Dies ist einer der am besten dokumentierten Fälle, in dem eine Frau Details von ihrer eigenen Operation geschildert hat, von denen sie eigentlich nichts wissen konnte, weil es für sie medizinisch unmöglich war, die geschilderten Vorgänge wahrzunehmen: der Fall von Pam Reynolds (1956–2010), einer amerikanischen Sängerin und Liedermacherin. Vergleichbare Berichte gibt es viele. Lässt sich die Realität eines Lebens nach dem Tod durch derartige Nahtoderfahrungen beweisen? 

Die Skeptikerin: Susan Blackmore

Zu den profiliertesten Gegnern dieser These gehört die britische Psychologin Susan Blackmore. Unter dem Eindruck ihrer eigenen Außerkörperlichkeitserfahrung hatte sie Parapsychologie studiert, war davon jedoch so enttäuscht, dass sie zu einer entschiedenen Gegnerin wurde. Mit der Literatur über Nahtoderfahrungen bestens vertraut, hat sie sich vorgenommen, Nahtoderfahrungen und Außerkörperlichkeitserlebnisse ausschließlich neurologisch zu erklären. 

Außerkörperlichkeitserfahrungen sind laut Blackmore möglicherweise vom Gehirn konstruierte fiktive Realitäten. Immerhin konstruiert das Gehirn eine fiktive Realität ja auch immer dann, wenn wir träumen. Bei fehlenden Sinnesreizen, so Blackmore, könnte unser normales Modell der Realität zusammenbrechen und einem Modell Platz machen, das aus Erinnerungen und Imagination zusammengesetzt ist. 

Nach Blackmore lassen sich heute alle klassischen Merkmale einer Nahtoderfahrung neurologisch erklären. Aber was sagt sie zu Fällen wie dem von Pam Reynolds? Hat sie nicht nach ihrem außerkörperlichen Erlebnis überprüfbare Tatsachen angegeben, die sie nur erfahren haben kann, wenn sie ihren Körper tatsächlich verlassen hat? 

Blackmore meint, dass es nur sehr wenige Fälle gebe, die hier in Betracht kämen. Bei näherem Hinsehen erwiesen sie sich alle – auch Blackmores eigene Außerkörperlichkeitserfahrung – als nicht stichhaltig. Unter anderem deshalb, weil die Berichte alle falschen Angaben, die Nahtoderfahrene machten, unterschlagen würden. Solche unzutreffenden Angaben habe sie bei ihren eigenen Nachforschungen immer wieder festgestellt. Vor diesem Hintergrund seien die äußerst wenigen zutreffend geschilderten Angaben nur noch vereinzelte Zufallstreffer. 

Die Trostspenderin: Penny Sartori

Einen völlig anderen Zugang zu dem Thema hat die britische Krankenpflegerin Penny Sartori. Auslöser für ihre Beschäftigung mit Nahtoderfahrungen waren Eindrücke aus ihrer Arbeit als junge Krankenschwester auf einer Intensivstation in der Mitte der 1990er Jahre. Sie war schockiert, wie die Verleugnung des Todes den Sterbenden ihre letzten Tage und Stunden unnötig zur Qual machte. Wie konnte sie ihren Patienten Friede und Würde am Lebensende ermöglichen, und wie konnte sie die Hinterbliebenen trösten? 

Bei ihrer Suche nach Antworten wurde sie auf Nahtoderfahrungen aufmerksam. Das Thema fesselte sie so, dass sie darüber promovierte. In ihrer Studie über Nahtoderfahrungen von Patienten der Intensivstation beschreibt sie beispielsweise den Fall eines Patienten, der im Nachhinein sehr genau beschreiben konnte, wie seine Wiederbelebung verlaufen war. Sartori konnte die Korrektheit der Angaben bestätigen, weil sie bei der Wiederbelebung selbst dabei gewesen war. 

Die Liebe des Lichtwesens, dem Sterbende begegnen, muss überwältigend sein: „Ich habe mit Menschen gesprochen“, schreibt Sartori, „die mir ihre Nahtoderfahrung nicht mitteilen konnten, weil sie nicht aufhören konnten zu weinen.“ Sartoris Resümee: „Materialistische Argumente reichen nicht aus, um die äußerst komplexen Nahtoderfahrungen zu erklären.“ 

Widersprüche und Gemeinsamkeiten zwischen Nahtoderfahrungen

Nicht alle Nahtoderfahrungen sind beglückend. Der Anteil an erschreckenden Erlebnissen könnte bei etwa 15 Prozent liegen, doch gibt es keine gesicherten Zahlen. Manchmal wendet sich ein negatives Erlebnis zu einem positiven. Ob wohl auch andere negative Erfahrungen eine positive Wendung genommen hätten, wenn die Erfahrung nicht durch die Wiederbelebung abgebrochen worden wäre? 

Die Wendung zum Positiven kann sich bei der Anrufung Gottes oder Jesu ereignen. Bei Rajiv Parti, einem Amerikaner mit indischen Wurzeln und hinduistischem Hintergrund, wendete sich das Erlebnis zum Guten, als er einsah, dass er sich bisher an den falschen Werten orientiert hatte. 

Für einzelne Glaubensvorstellungen spezifischer Religionen können Nahtoderfahrungen kaum als Bestätigung dienen. So kehren einige Nahtoderfahrene mit dem Glauben an die Wiedergeburt zurück, während andere das traditionelle christliche Weltbild bestätigt sehen. Warum das so ist, erklären wieder andere Nahtoderfahrene so: Wir Menschen bekommen die Weltanschauung mit auf den Weg, die am besten zu der spirituellen Aufgabe passt, die wir in diesem Leben zu lösen haben. 

Auf einer tieferen Ebene überwiegen jedoch die Gemeinsamkeiten. Fast alle Nahtoderfahrenen teilen folgende Überzeugungen:

  • Es gibt eine höhere Macht.

  • Unser Leben und alles, was geschieht, hat einen tieferen Sinn, auch wenn wir ihn nicht verstehen.

  • Das Leben geht nach dem Tod weiter. Wir werden unsere verstorbenen Lieben wiedersehen.

  • Liebe ist das Wichtigste im Leben. Erfolg, Wettbewerb und Statussymbole sind nicht wichtig. Wir sind hier, um zu lieben, zu lernen und füreinander da zu sein.

  • Wir sollten unsere Bestimmung finden und leben, statt uns den Erwartungen anderer Menschen zu unterwerfen.

In einem dürften sich Nahtoderfahrene und Skeptikerinnen einig sein: Dieses Leben ist kostbar. Was uns davon bleibt, beginnt jetzt. Wir gestalten es besser, wenn wir auch auf sein Ende sehen.