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Christen heute, Juni 2015

Wieder gelesen: Hans Küngs „Jesus“

Hans Küng ist heute vor allem als Kirchenkritiker und mit seinen Äußerungen zur aktiven Sterbehilfe im öffentlichen Bewusstsein. Doch wo das Herz seiner Theologie schlägt – das zeigt sein 2012 erschienenes Buch „Jesus“. Darin erschließt Küng, was sich heute aus Sicht der historisch-kritischen Bibelwissenschaft über Jesus sagen lässt. Doch geht er auch darüber hinaus: Was, fragt er, soll ein aufgeklärter Mensch der Moderne damit anfangen? Kann Jesus heute noch der „letztlich Maßgebende“ sein?

 

Jesus, der Humanist

Küng arbeitet zunächst heraus, dass Jesus in keines der Schemata passt, die zu seiner Zeit geläufig waren: Weder ließ er sich vom politischen oder religiösen Establishment vereinnahmen, noch schloss er sich den Revolutionären an, noch zog er sich von der verdorbenen Welt zurück in einen reinen Kreis Auserwählter. Auch Kompromisse mit dieser oder jener Gruppierung waren seine Sache nicht. Er machte es sich zwischen allen Stühlen denkbar unbequem. Und warum? Weil es ihm nicht um Macht ging, nicht um eine neue Gesellschaftsordnung, nicht um die strikte Einhaltung religiöser Vorschriften und auch nicht um behagliche Sicherheit, sondern um den Menschen.

Jesus war Humanist – überzeugender als so mancher, der sich zum Humanismus bekennt. Denn Jesus stellte den Menschen in die Geborgenheit des liebenden Vaters, statt ihn zu vergötzen und damit zu überfordern. Seit Jesus, so Küng, kann man Gott nicht mehr gegen den Menschen ausspielen. Wer Gott dienen will, muss in erster Linie seinen Mitmenschen eine Nächste, ein Nächster sein.

Bewusst wählt Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter einen verabscheuten Häretiker als Vorbild der Nächstenliebe. Dagegen verfehlt im selben Gleichnis der rechtgläubige Priester, der auf die Einhaltung religiöser Vorschriften setzt, gerade dadurch das Entscheidende.

Das Beispiel des Samariters zeigt: Jesus vertritt keine Moral für eine aristokratische Elite. Seine „Zielgruppe“ sind die Armen, die Dummen, die Erfolg-, Macht-, Bedeutungslosen, die Kranken, die moralischen Versager, die – damals im öffentlichen Leben marginalisierten – Frauen. Untypisch für das Judentum der damaligen Zeit, stellt er gestandenen Männern kleine Kinder als Vorbild hin. Indem er bei Zöllnern speist, erweist er sich gar als Freund von Wendehälsen. Skandalöser Gipfelpunkt seiner Zuwendung zu den Ausgegrenzten ist die Feindesliebe.

Jesus wendet sich gescheiterten und verabscheuungswürdigen Existenzen zu und ermutigt sie, einem Gott zu vertrauen, der sie bereits angenommen hat, bevor sie umkehren. Was müssen sie selbst beitragen? Nichts weiter, als die Vergebung, die Gott ihnen schenkt, großmütig weiterzugeben: „Wer aus der großen Vergebung leben darf, soll die kleine nicht verweigern.“

Dem religiösen Strebertum abgeneigt, geriet Jesus, obgleich im Judentum verwurzelt, mit den jüdischen Autoritäten in Konflikt. Ihre erbsenzählerische Beschäftigung mit diesem oder jenem Regelverstoß interessierte ihn nicht – ihm kam es auf die Grundgesinnung an. Am Sabbat zu heilen, verbietet das Gesetz? Nicht das Gesetz ist die Sache Gottes, sondern der Mensch.

In den Augen der Frommen verkündete Jesus damit einen im Grunde unmöglichen Gott der Gottlosen, einen Gott, der die Ketzer mehr liebt als die Orthodoxen, einen, der ein Gesetz erst verkündet und dann auf seine Einhaltung keinen Wert legt.

 

Für wen haltet ihr mich?

In Konflikt mit den religiösen Autoritäten geriet Jesus auch durch sein Selbstbild. Zwar teilt Küng den Befund der historisch-kritischen Exegese, dass Jesus zu seinen Lebzeiten eine Vergötterung seiner selbst abgelehnt habe: „Was nennst du mich gut?“, weist Jesus einen jungen Mann zurecht, „niemand ist gut als Gott allein“. Nicht er selbst stand im Zentrum seiner Botschaft, sondern das Reich Gottes. Hoheitstitel wie Messias, Davidssohn oder Gottessohn sind ihm erst nachträglich zugesprochen worden. Doch ist diese Entwicklung schon in Jesu eigenem Wirken angelegt. Mit der Formel „Ich aber sage euch“ stellte er sich über das Gesetz, und indem er schuldig Gewordenen die Vergebung Gottes zusprach, erhob er sich über den Tempelkult mit seinen Sühnopfern.

Wenn Küng dafür eintritt, Jesus auch heute noch als den „letztlich Maßgebenden“ anzuerkennen, hat er offensichtlich vor allem Jesus als Lehrer der Mitmenschlichkeit vor Augen. Christ ist, wer auf seinem persönlichen Lebensweg „sich bemüht, sich an diesem Jesus Christus praktisch zu orientieren. Mehr ist nicht verlangt.“

Dass Jesus für unsere Sünden gestorben sei – dieser Glaubenssatz tritt bei Küng in den Hintergrund. Doch ist für Küng das Leiden und Sterben Jesu sehr wohl von zentraler Bedeutung. Jesu gewaltsamer Tod lag durchaus „in der Logik seiner Verkündigung und seines Verhaltens“. Dass er die gängigen Wertmaßstäbe radikal auf den Kopf stellte, hat ihn ans Kreuz gebracht. Nur deshalb konnten seine Anhänger das grässlichste Mal der Schande umdeuten in ein Zeichen der Überwindung, des Sieges, ja, der Freiheit: Das, womit man uns einschüchtern will, ist nicht die wahre Bedrohung. Das, womit man uns locken will, ist nicht erstrebenswert. Herr ist nicht der von allen Seiten umworbene Kaiser, der in seiner Machtfülle über Tod und Leben entscheidet. Herr ist der von seinen Freunden verlassene, von seinen Gegnern verspottete, ans Schandmal geschlagene Machtlose – Jesus. Wer ihm anhängt, dem wird keine weltliche Macht je seine – oder ihre – Würde wieder nehmen können.

 

Fragen

Bei der Auferstehung scheint mir, dass Küng als Mittler zwischen dem christlichen Glauben und dem Geist der Aufklärung an eine Grenze stößt. Offen spricht er die Schwierigkeiten an, die sich aus historisch-kritischer Perspektive stellen: Dass es sich in den überlieferten Auferstehungsberichten um Glaubenszeugnisse handle, die einander teilweise widersprechen; dass ein übernatürlicher Eingriff heute auf Unverständnis stoße; dass niemand direkter Zeuge der Auferstehung gewesen sei. Doch hält er diese Schwierigkeiten für überwindbar. Wenn ich Küng richtig verstanden habe, besteht seine Lösung darin, die Auferstehung als ein Phänomen jenseits von Raum und Zeit aufzufassen und so dem Zuständigkeitsbereich der Vernunft zu entziehen. Meine Frage dazu: Muss nicht, wer den Glauben an die Auferstehung vertreten will, sich auf einem Feld stellen, das Gläubigen wie Ungläubigen zugänglich ist?

Auch an Küngs Darstellung des „vorösterlichen“ Jesus habe ich Anfragen. Sicherlich, Jesus ist für die Ausgegrenzten eingetreten. Doch hat nicht auch er Menschen ausgegrenzt? Finden sich in den Evangelien nicht etliche Belege dafür, dass nach Jesu Überzeugung viele, ja sogar die meisten Menschen den schmalen Pfad zum Leben nicht finden und deshalb vom Reich Gottes ausgeschlossen bleiben?

 

An welchen Jesus wollen wir uns halten?

Meine persönliche Meinung dazu: Wo Jesus eine Härte zeigt, die im Widerspruch steht zu seiner Barmherzigkeit, sollten wir uns an seine Barmherzigkeit halten. Er könnte manches im Zorn gesprochen haben und in der Absicht, Dinge zuzuspitzen. Schließlich war seine Ausdrucksweise nicht die eines übervorsichtigen Juristen, der alles Leidenschaftliche aus seinen Worten herausfiltert und, was bleibt, in allerlei einschränkenden Nebensätzen erstickt. Seine Rede war kraftvoll und pointiert. So ist das eben bei Menschen, die das Herz am rechten Fleck haben. Man sollte sich von ihnen aufrütteln lassen, aber nicht jedes ihrer Worte auf die Goldwaage legen.

Bei einem so frei und kraftvoll formulierenden Geist wie Jesus treffen wir nicht das Richtige, wenn wir am Buchstaben kleben. Auch Jesus – und da sind wir wieder bei Küng – klebte nicht am Buchstaben der Schrift, die ihm heilig war. Berücksichtigt man, in welchen Aussagen Jesus als Kind seiner Zeit spricht und in welchen er über die Vorstellungen seiner Zeit hinausgeht, dann zeigt sich: Angemessen ist es, sich nicht an den apokalyptischen Jesus zu halten, sondern an den humanen, nicht an den ausschließenden, sondern an den einladenden, nicht an den verdammenden, sondern an den verzeihenden.

Wohin es führt, wenn ängstliche Gemüter die Worte Jesu buchstabengläubig in Kirchenrechtsparagraphen zementieren, führt Küng am Beispiel der Scheidung vor: Ja, Jesus hat sich eindeutig und unmissverständlich gegen die Scheidung ausgesprochen – Jesus selbst, nicht etwa nur die nachösterliche Gemeinde. Doch was ist zu tun, wenn eine Ehe „trotz Gottes unbedingter Forderung“ zerbricht? Darüber, so Küng, sagt Jesus nichts. Wenn eine Kirche also geschiedene Wiederverheiratete von der Mahlgemeinschaft mit Jesus ausschließt, kann sie sich nicht auf den berufen, der mit den Sündern Mahl hielt.

Kann Jesus heute noch, in den Worten Küngs, der „letztlich Maßgebende“ sein? Trotz aller Irritationen ist meine persönliche Antwort ja. Zwar kann Jesus für mich nicht maßgebend sein in dem Sinn, dass er über jeden Irrtum erhaben wäre, geschweige denn dass er der Kirche ersparen würde zu irren. Jesus hat sich sehr wohl geirrt, als er – darin Kind seiner Zeit – das Ende der Welt und den Anbruch des Reiches Gottes für die nahe Zukunft ankündigte. Und Küng ist aufrichtig genug das zuzugeben. Nein, letztlich maßgebend ist Jesus für mich, weil er mir das Herz aufschließt für das, was wirklich zählt, und weil er mich die Haltung lehrt, die mir als Mensch angemessen ist.

In diesem Sinn bin ich Küng dankbar, dass er seinen ungeheuren Kenntnisreichtum einsetzt, um meine Aufmerksamkeit auf das Wesentliche zu lenken. Sein Buch ist ein Augenöffner.

 

Gregor Bauer