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Christen heute, März 2016

Platon: der Preis der Freiheit

Aus der Unmündigkeit in die Freiheit: Das ist die Richtung, in die wir gesellschaftlich wollen. Da kann es uns nicht gefallen, dass Platon (428/427–348/347 v. Chr.), der wohl einflussreichste Denker der klassischen Antike, den umgekehrten Weg gegangen ist: von der Freiheit zur Tyrannei.

Der junge Platon war ein Coach des freien Denkens. In seinen sokratischen Dialogen zeigt er, wie man Autoritäten bloßstellt, die sich vor der rationalen Auseinandersetzung drücken. Welche psychische und intellektuelle Anstrengung es kostet, den Kopf frei zu bekommen. Wie ungern wir alle uns hinterfragen lassen. Und wie erbärmlich ein Staat handelt, der einen Menschen – Sokrates – hinrichten lässt, nur weil der das offene Gespräch sucht.

 

Vom Lehrer zum Feind der Freiheit

Doch ausgerechnet dieser Platon wurde in seinen reifen Jahren zum erbittertsten Feind der Freiheit. In seinem vielleicht bedeutendsten Werk, dem „Staat“, propagiert er einen totalitären Kastenstaat, in dem das Individuum nichts gilt – und schon gar nicht selbstständig denken soll. Woher dieser Sinneswandel?

Vielleicht haben wir bei dem jungen Platon etwas übersehen: Ja, er wollte das Denken befreien. Aber damit verband er andere Erwartungen als wir. Wir halten uns für aufgeklärt, wenn wir den eigenen Verstand gebrauchen, um zu einem selbstbestimmten Leben zu finden. Doch Platons Rationalität dient mystischen Zielen: Er will, dass wir unser Denken von fremden Vorgaben befreien, damit wir zu der einen, objektiven Wahrheit finden, die für alle Menschen gleich gilt.

Platon war überzeugt, dass wir Menschen in einer Scheinwelt leben, von der wir uns abwenden müssen, um zu der eigentlichen Wirklichkeit zu gelangen. In seinem berühmten Höhlengleichnis hat er es veranschaulicht: Was wir für das Leben halten, sind nur wahnhafte Schatten auf einer spärlich beleuchteten Höhlenwand. Die meisten von uns lernen nie etwas anderes kennen. Doch wer das wahre Leben aufspürt, gelangt im Licht der Erkenntnis zu überwältigend neuen Dimensionen. Den Weg dahin erschließen: Das ist es, was das freie Denken leisten soll.

Von diesem Konzept fühlen sich religiöse Naturen auch heute noch angezogen. Aber es hat seine Schattenseiten: Was Platon vorschwebte, war nicht die Befreiung des Individuums, sondern seine Bekehrung. Das freie Denken war ihm ein Mittel zu diesem Zweck.

Doch Platon musste erfahren: Das freie Denken führt nur die Besten zu der Bekehrung, auf die es ihm ankam. Bescheidenere Geister bleiben auf halber Strecke stehen. Bei ihnen demontiert das freie Denken zwar das Ansehen von Eltern, Religion und Staat. Aber es hat nicht die Kraft, an ihre Stelle etwas Positives zu setzen. Dann entstehen keine sittlich reifen Charaktere, sondern entfesselte Egoisten.

Was für verheerende Schäden freie Denker dieser Sorte anrichten können – dafür hatte Platon anschauliche Beispiele. Der schlimmste von ihnen, Alkibiades, ein eifriger Sokrates-Verehrer, verführte die Athener zu einem mörderischen militärischen Abenteuer, um sie anschließend an ihre Feinde zu verraten. Mehrere zehntausend Athener verloren bei dieser „sizilischen Expedition“ ihr Leben.

Solche Beispiele vor Augen, kam Platon zu dem Ergebnis, dass es ratsam sei, die meisten Menschen mit manipulativen Methoden autoritätsgläubig zu halten. Das alles zersetzende freie Denken, die „Dialektik“: Sokrates hatte sie noch offen auf dem Markt Athens gepflegt. Bei Platon wird sie zur Geheimlehre, die einer kleinen Elite vorbehalten bleibt.

 

Wo kippt unsere Freiheitsliebe?

So weit, so irritierend. Doch wie steht es mit uns selbst? Ist unsere freiheitliche Gesinnung so unerschütterlich, wie wir glauben? Üben nicht auch wir Zwang aus, beispielsweise Gruppenzwang in polarisierten gesellschaftlichen Debatten? Auf Polizei, Gefängnisse und Militär wollen auch wir nicht verzichten. Wir haben die Gewalt monopolisiert, nicht überwunden, und bleiben in Gefahr, sie zu missbrauchen.

Und wie steht es mit der Freiheit in unserer Kirche? Von einer Inquisitionsbehörde werden wir nicht eingeschränkt. Aber vielleicht von uns selbst?

Wo wir Menschen unsere besten Absichten verfolgen – gerade dort geraten wir in Gefahr, es mit der Freiheit nicht mehr gar zu genau zu nehmen. Welche Absichten könnten das in unserer fortschrittlichen Kirche sein? Wohl kaum die Durchsetzung irgendwelcher Dogmen. Aber wie viel Raum bleibt in unseren Gemeinden für Menschen, die unsere Überzeugungen nicht teilen in Sachen Flüchtlingspolitik, Feminismus, Ursachen der Armut oder Klimawandel? Grenzen wir die aus, weil wir unter uns bleiben wollen? Wäre nicht auch das eine Form der Fremdenfeindlichkeit?

Und wie viel Freiraum lassen wir unserem eigenen kulturellen Erbe? Darf es weiterwirken, auch wo es gegen unsere Überzeugungen steht? Wir wollen die schuldfixierten Opfertheologie vergangener Jahrhunderte hinter uns lassen und eine Sprache pflegen, die Frauen nicht länger ausgrenzt. Wollen wir also Bachs Choräle ausmustern, weil sie uns zu opfertheologisch sind, oder Schuberts deutsches Sanctus, weil sich darin alles um den „Herrn“ dreht? Ich finde: Dann wären wir aus bester Absicht engherzig und unfrei geworden. Bei einem solchen kulturellen Kahlschlag würde ich nicht an Emanzipation und Fortschritt denken, sondern an die Pläne des Kulturideologen Platon. Der glaubte, er müsse die herrlichen Gesänge des politisch unkorrekten Homer ersetzen durch harmlose Staatslyrik.

Ich behaupte nicht, dass das unsere Realität ist. Aber wie wir umgehen mit den Geistern in Tradition und Gegenwart, die von unseren Überzeugungen abweichen: Diese Frage geht auch an uns.

 

Gregor Bauer