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Christen heute, Februar 2018

Glaube und Wissenschaft

Glauben heißt nicht wissen. Alles, was sich wissen lässt, ist Sache der Wissenschaft, was geglaubt werden muss, Sache der Kirche. Ist das ein Deal?

Einen solchen Vorschlag kann man nur einer Kirche machen, die bereits ziemlich zusammengestaucht ist. Ursprünglich hat sie sich sehr wohl auch für das Wissen zuständig gefühlt, wie sich beispielsweise bei Lars Jaeger nachlesen lässt („Die Naturwissenschaften. Eine Biographie“, 2015).

 

Rückblick: Versagen der Kirche …

Am Anfang der Kirchengeschichte war Wissen eher suspekt: Nicht-geistliche Bücher galten als Luxus, passten also nicht recht zum Armutsideal Jesu. Immerhin beschäftigte man sich mit einzelnen Wissenschaftlern wie dem Astronomen Ptolemäus oder dem Mediziner Galen. Doch setzte man sich mit ihnen nicht kritisch auseinander, sondern verehrte sie wie unangreifbare Lehrautoritäten. Das änderte sich erst im 11. Jahrhundert durch die Begegnung mit der arabischen Kultur: Muslimische Gelehrte interessierten sich damals für das antike Erbe in seiner ganzen Breite und machten sich über naturwissenschaftliche und mathematische Fragen ihre eigenen Gedanken.

Mitte des 14. Jahrhunderts tötete die Pest in Europa etwa 25 Millionen Menschen, ein Drittel der damaligen Bevölkerung. Die heillos überforderte Kirche verlor massiv an Autorität. Angesichts der offensichtlichen Nutzlosigkeit von Gebet und Bußübungen begannen Ärzte, sich mit den körperlichen Ursachen der Krankheit zu beschäftigen. Der massenhafte Tod dünnte die starren Standeshierarchien aus, auf denen auch die Macht der Kirche bisher gegründet hatte. So konnten neue wirtschaftliche Kräfte Fuß fassen: Die Medici, die Fugger und andere wussten Wissenschaft und Technik zu schätzen und förderten sie nach Kräften. Auch die politischen Herrscher erkannten zunehmend, welche Vorteile sie aus der wissenschaftlichen Forschung ziehen konnten.

Mit der Erfindung des Buchdrucks um 1450 beschleunigte sich der gelehrte Gedankenaustausch und erreichte weitere Kreise. Diese Entwicklung entzog sich zunehmend der kirchlichen Kontrolle. Nicht anders sah es an den Universitäten aus. Dass sich im frühen 16. Jahrhundert die Kirche spaltete, schränkte ihre Deutungshoheit weiter ein. Vergeblich versuchte sie im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648), das Rad der Zeit gewaltsam zurückzudrehen.

Als Galilei verbreitete, dass sich die Erde um die Sonne drehe, erschütterte er die Vorstellung von der zentralen Stellung des Menschen im Kosmos. Zwar beugte sich Galilei 1633 der rohen Gewalt der Kirche und widerrief. Auf Dauer ließ sich die Wahrheit jedoch nicht verheimlichen.

Noch im 19. Jahrhundert fürchtete Darwin die Empörung christlicher Eiferer so sehr, dass er die Veröffentlichung seiner Evolutionstheorie jahrelang hinauszögerte.

Welche Blamage: Viele der Erkenntnisse, die heute unser Weltbild bestimmen und die unser Leben sicherer, länger und angenehmer machen, mussten gegen den erbitterten Widerstand der Kirche durchgesetzt werden. Für weitere Konflikte mit der Wissenschaft scheint die Kirche deshalb denkbar schlecht gerüstet. Und doch sind sie unvermeidlich.

 

… und der Wissenschaft 

So oft die Wissenschaft auch recht behalten hat: Kritischen Einspruch braucht sie durchaus. Denn uneingeschränkt positiv war ihr Wirken noch nie.

Grausame Tierversuche gab es bereits in der Antike. Den Tod brachten wissenschaftliche Erkenntnisse nicht erst, seit Militärs die Berechnungen Galileis zur Flugbahn von Körpern anzuwenden lernten. Auch war die Wissenschaft nie zimperlich, was die Mittelbeschaffung anging: Ihren Auftrieb im 16. Jahrhundert verdankte sie nicht zuletzt Reichtümern aus der brutalen Ausbeutung des 1492 entdeckten amerikanischen Kontinents.

Einer der größten Triumphe der Wissenschaft war ihr Sieg über tödliche Krankheitskeime. Wissenschaftlich begründetes Vorgehen gegen Seuchen sichert heute das Überleben von Milliarden von Menschen. Wer wollte dafür nicht dankbar sein? Und doch hat auch dieser Erfolg seine dunkle Seite: Der Sieg über tödliche Krankheitskeime schuf auch die Voraussetzungen, um Tiere in großen Massen auf engstem Raum zusammenzupferchen, ohne auf ihre elementaren Lebensbedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Heute sind die meisten auf der Erde lebenden Großtiere grausam ausgebeutete Wesen. Über 60 Milliarden Tiere werden jährlich weltweit für den Fleischkonsum getötet. In der Regel haben sie ein widernatürliches Leben in qualvoller Enge hinter sich. Fragt man nicht nur, was die Wissenschaft dem Menschen Gutes, sondern auch, was sie seinen Mit-Tieren Schreckliches antut, dann ist ihre Bilanz katastrophal, und das in unfassbaren Dimensionen. (Mehr dazu bei Yuval Harari, „Sapiens“, 2014, und „Homo Deus“, 2016.)

Wissenschaft schützt Leben, bedroht es aber auch. Mit der Atombombe hat sie der Menschheit ein Mittel an die Hand gegeben, sich selbst auszulöschen. Und ob wir die Umweltzerstörung als direkte Folge angewandter Wissenschaft überleben werden, ist noch keineswegs ausgemacht.

 

Ein neues Tempo

Mit der Digitalisierung ist die Entwicklung von Wissenschaft und Technik vollends aus dem Ruder geraten. Seit Jahrzehnten werden in unvorstellbarer Geschwindigkeit Fakten geschaffen, die immer neue ethische Fragen aufwerfen. Genmanipulation in Landwirtschaft und Medizin ist heute weltweit ebenso alltäglich wie das Klonen erfolgreicher Rennpferde. Die Herstellung von komplett künstlichem Leben ist bei Bakterien schon vor Jahren gelungen. An Smartphones haben wir uns gewöhnt, bevor wir angefangen haben, über die Auswirkungen nachzudenken. Wann werden wir uns vom nächsten Hype überrumpeln lassen? Wann werden wir unsere Gehirne direkt mit Computern vernetzen müssen, um mit der Entwicklung Schritt zu halten? Wann wird der gentechnisch optimierte Über-Mensch seinen natürlich gezeugten Vorfahren den Rang ablaufen? Und wie werden wir mit der Künstlichen Intelligenz klarkommen, wenn sie uns eines Tages überlegen sein wird?

 

Alle Fluchtwege versperrt 

Falls der Kirche all das zu heiß sein sollte: Wohin will sie sich denn vor dem Ansturm der Wissenschaften zurückziehen?

Etwa ins Reich der ethischen Normen? „Wissenschaft kann nur sagen, was ist, nicht aber, was sein soll“, lautet eine geläufige Grenzziehung. Doch die ist längst obsolet geworden. Denn wer wollte nicht als oberste Norm akzeptieren, dass Leid zu lindern, Freude dagegen zu fördern sei? Sobald diese Norm aber gesetzt ist, ist es Sache der Wissenschaft herauszufinden, wodurch sich am besten Leid lindern und Freude fördern lässt.

Was bleibt der Kirche also? Etwa das Mysterium des Lebens? Dem sind die Biologen längst auf der Spur. Bald schon könnten sie vollständig erklären, wie Leben entsteht. Oder das Mysterium der Seele? Die gibt es nicht, sind Hirnforscher überzeugt. Den Nachweis, dass sich das Bewusstsein vollständig auf materielle Zusammenhänge reduzieren lässt, halten sie nur noch für eine Frage der Zeit. Dann hat sich, so meinen sie, auch die Lehre von der Unsterblichkeit erledigt.

Aber wenn es ans Sterben geht: Dann kann uns doch die Wissenschaft nicht mehr helfen? Spätestens dann ist doch die Kirche gefordert?

In den Hospizen könnte man einen anderen Eindruck bekommen: Nach der Bibel wird kaum noch gefragt, seelischer Beistand von Priestern kaum noch verlangt. Sicherlich, gegen Ängste im Angesicht des Todes braucht es menschliche Nähe. Aber ein mitfühlender Blick, eine zärtliche Hand trösten auch ohne irgendwelche metaphysischen Gewissheiten. Dafür braucht es keine Kirche. Angewandte Wissenschaft – Psychopharmaka, medizinische Hilfsgeräte – bleibt dagegen bis zuletzt unentbehrlich.

„Was nützt es dem Menschen“, fragte einst Jesus, „wenn er die Welt gewinnt, darüber aber seine Seele verliert?“ Heute ließe sich fragen: „Was schadet es dem Menschen, dass er keine Seele hat, solange die Versorgung mit Beruhigungsmitteln gesichert ist?“ Dann verliert auch die Frage nach dem Sinn des Lebens an Bedeutung.

Sinnentleert, aber komfortabel, unterhaltsam und weitgehend schmerzfrei: So müssen wir uns wohl das wissenschaftlich rundumversorgte Leben vorstellen. Nun, warum nicht? Ist der Sinn des Lebens nicht ein überflüssig gewordenes Konzept, von dem man ohnehin nie so recht wusste, was es eigentlich bedeuten soll?

 

Was tun?

Stellen wir uns vor, die Kirche wollte sich der Herausforderung stellen und dem Absolutheitsanspruch der Wissenschaft etwas entgegensetzen. Was könnte sie tun?

Zunächst sollte sie ihre überholten Scharmützel hinter sich lassen. Bei kirchlichen Binnen-Debatten, beispielsweise über die Unfehlbarkeit oder über die apostolische Sukzession, werde ich mittlerweile unruhig: Wo lebt ihr? Die Wissenschaft räumt euer Haus leer, und ihr sitzt im Sandkasten und spielt mit Förmchen?

Angesichts der Herausforderung durch die Wissenschaft werden die Unterschiede, Eigen- und Sonderbarkeiten verschiedener Lager, Konfessionen und Religionen bedeutungslos. Kirchliche Hierarchien und Lehrautoritäten spielen keine Rolle mehr: Kein kirchliches Amt qualifiziert dazu, den Glauben an eine höhere Macht gegen den absolut gewordenen Deutungsanspruch von Naturwissenschaftlern zu behaupten. Hier sind alle Gläubigen innerhalb und außerhalb der Kirchen gleich. Der Glaube eines Galilei hat nicht weniger Gewicht als der Glaube seiner Inquisitoren.

Sodann sollten die Gläubigen gar nicht erst versuchen, ihren Glauben mit dem Absolutheitsanspruch der Wissenschaft in Einklang zu bringen. Von kirchlicher Seite kann es gegenüber dem Versuch, alles restlos aus physikalischen Zusammenhängen heraus zu erklären, nur eine Haltung geben: Widerspruch.

Ich höre schon den Einwand: „Widerspruch? Gegen die Wissenschaft? Das geht doch nicht. Sobald etwas wissenschaftlich bewiesen ist, muss man es akzeptieren. Und sollte die Wissenschaft eines Tages beweisen können, dass sich alle geistigen und sonstigen Phänomene auf Physik zurückführen lassen, dann ist das eben so.“

In der Tat: Die Wissenschaft ist in allen Fragen der Wahrheitsfindung zur obersten Instanz geworden. Wenn sie eine Wahrheit verkündet, dann müssen wir sie glauben, auch wenn wir sie nicht verstehen. Schließlich sind wir nur Laien.

Moment mal: Glauben? Müssen? Laien? Kennen wir das nicht irgendwoher? Eine Wissenschaft, die Glauben fordert und keinen Widerspruch duldet: Was soll das denn sein?

Im Ernst: Wissenschaft braucht Widerspruch. Wie der aussehen könnte, dazu hier ein paar Vorschläge:

Wissenschaftliche Forschung ist teuer. Die Geldgeber aus Politik und Wirtschaft verfolgen immer konkrete Interessen. Diese Verflechtungen gilt es kritisch zu untersuchen. 

Wissenschaftler stehen nicht außerhalb der Welt, die sie untersuchen. Sie sind Teil davon. Etwas erkennen bedeutet deshalb immer auch, es zu verändern. Quantenphysiker wissen das, Hirnforscher tun sich mit dieser Einsicht offenbar noch etwas schwer.

Wissenschaftler sind Menschen: Welchen Themen sie sich zuwenden und wie sie das tun – das hat immer auch etwas mit der Peer Group zu tun, der sie gefallen wollen. Wenn ein Wissenschaftler weiß, dass die vorurteilslose Beschäftigung mit einem bestimmten Thema ihn Ruf und Karriere kosten kann, dann wird er davon eher die Finger lassen. Auch die Wissenschafts-Gemeinde hat ihre Tabus. Die vollständige Rückführbarkeit aller Phänomene auf Physik anzuzweifeln: Das ist ein solches Tabu. Im wissenschaftlichen Diskurs gilt das als ungeheuerlich.

Wissenschaftliche Erkenntnis hat mit Kontrolle zu tun: Etwas verstehen bedeutet immer auch, es zu kontrollieren. Das ist legitim. Aber wenn es uns überlegene geistige Wesen gibt, die sich kalter rationaler Kontrolle entziehen wollen und können, dann werden Wissenschaftler sie nicht zu fassen bekommen.

Wissenschaftler entmutigen: Täglich machen viele Menschen spirituelle Erfahrungen und verschweigen sie aus Angst, für verrückt erklärt zu werden. Denn solche Erfahrungen lassen sich oft nicht mit dem herrschenden wissenschaftlichen Weltbild in Übereinstimmung bringen. Eine offene Kirche könnte diese Menschen ermutigen zu sagen, was sie zu sagen haben. Die Hospizbewegung macht es vor. Wenn die Kirche dafür irgendwelche dogmatischen oder theologischen Borniertheiten überwinden müsste, dann sollte sie das tun.

Gregor Bauer